Die Gans rutscht vom Teller
Es ist doch immer dasselbe: Irgendwann in den Weihnachtsfeiertagen wirft man das Radio aus dem Fenster, den Fernseher hinterher, weil man die klebrige Soße, die da herausrinnt, nicht mehr erträgt. Man sehnt sich dann nach einer Berghütte, wo niemand ist, auch kein Strom, wo auch keine Nachbarn sind, deren Töchter den ganzen Tag auf der Blockflöte ein paar kümmerliche Tonfolgen üben, die sie dann zur Freude der halbtauben und deshalb entzückten Verwandtschaft unter dem Christbaum zum Besten geben, um vom Opapa noch ein paar Euro extra zugesteckt zu kriegen, weil's doch so schön war. Sind die Fluchtwege verwehrt, gibt es immer noch Gegenmittel. Nein, keine barocken Trompetenkonzerte. Auch nicht das Weihnachtsoratorium, das höre man sich gefälligst live an. Sondern vielleicht Carla Bley. Die hat gerade eine wunderbare Weihnachts-CD aufgenommen, "Carla's Christmas Carols". Die Sensation darauf ist nicht Bleys unfassbar ironisches Spiel an Klavier und Celesta, sondern das Partyka Brass Quintet. Für zehn Sekunden klingt die CD wie jene original russischen Horngruppierungen, die in dunkler Nacht Kulturinteressierten beim Verlassen der Konzertsäle auflauern. Doch dann rutscht mit einer schrägen Dissonanz die Gans vom Teller und die Lieder, die schon die Alten sungen, erklingen ohne Text frisch und leicht subversiv.
Gegen eine härtere Weihnachtsdepression hilft "Notturno", fünf Sätze für Streichquartett und Singstimme von Othmar Schoeck, eingespielt vom Rosamunde Quartett und Christian Gerhaher. Dunkle Schwerstromantik, zu der Nikolaus Lenau Zeilen lieferte wie "Die Freunde sind zu selten / Ohne Denken trinkt das Tier / Und ich lad aus andern Welten / Lieber meine Gäste mir".
Text: Egbert Tholl/sueddeutsche.de/iko
Foto: dpa