Süddeutsche Zeitung

Musik im Horrorfilm:Wenn Fingernägel über eine Tafel kratzen

In Stanley Kubricks "The Shining" sind es nicht die Bilder allein, die Gänsehaut erzeugen. Es ist vor allem der Ton. Wie muss Filmmusik klingen, die Angst machen soll?

Von Thorsten Glotzmann

Der kleine Danny kniet auf dem Teppichboden. Vor ihm eine Reihe Spielzeugautos, er lässt sie entlang der Linien des braun-rot-orangefarbenen Teppichmusters fahren. Mit seinen Lippen ahmt er das Motorbrummen nach. Brrrm, brrrm. Im Hintergrund sind tiefe, langsam anschwellende Akkorde zu hören, Blechbläser, voller Dissonanz, ein Trommelgrummeln. Plötzlich springt ein Tennisball ins Bild: Parallel zu den geraden Linien des Teppichmusters rollt er auf Danny zu. Der hebt den Blick, der Gang ist leer. Woher kommt der Tennisball? Und da sind wieder diese raunenden Akkorde, während Danny den Gang hinabschleicht. Immer näher rückt es, das Zimmer 237, das Ungeheuerliche.

Dann erwacht Jack Nicholson alias Jack Torrance schreiend aus seinem Alptraum. Er hat davon geträumt, Frau und Kind zu ermorden, sie in Stücke zu schneiden - eine Schlüsselszene aus Stanley Kubricks "The Shining".

"Angst ist eine Gefahrvermeidungsstrategie"

Doch es sind nicht die Bilder allein, es ist vor allem die Musik, die Gänsehaut erzeugt. Die den Zuschauer physisch leiden lässt, ähnlich dem kreischenden Quietschen, wenn Fingernägel über eine Tafel kratzen. So schwirren und zittern die Pikkoloflöten und Violinen im Stück "Als Jakob erwachte" des polnischen Avantgarde-Komponisten Krzysztof Penderecki. Zu den Takten, zu denen Danny über den Gang schleicht, heißt es in der Partitur: misterioso. Mysteriös.

"Wenn intakte, harmonische Musik zerstört wird, löst das Angst aus", sagt der Kölner Musikwissenschaftler Frank Hentschel, der in seinem Buch "Töne der Angst" (2011) Musik in Horrorfilmen analysiert hat. Dissonanzen, Tontrauben und Cluster, die entstehen, wenn man auf einem Klavier benachbarte Tasten gleichzeitig anschlägt - all das habe eine aufreibende verängstigende Wirkung, so Hentschel.

Warum machen uns die atonalen Klänge eines Krzysztof Penderecki solche Angst? "Penderecki spielt auf romantische Gesten an, arbeitet mit einem romantischen Symphonieorchester. Dabei lässt er aber Unsauberkeiten und Elemente der Störung einfließen. Das macht die Spannung erst erfahrbar", erklärt Frank Hentschel. Schrille Töne stören die Romantik, sie fahren unter die Haut und bohren sich ins Ohr. Dort schlagen sie Alarm. "Für die Einordnung von Gefahren ist der akustische Sinn der wichtigste", sagt Hentschel. Kein Wunder also, dass wir Angst empfinden, wenn wir die Gefahr hören, denn: "Angst ist eine Gefahrvermeidungsstrategie".

Katastrophen haben einen Sound

Danny bewegt sich langsam auf den am Boden kauernden Vater Jack zu. Misterioso. Die Mutter, Wendy Torrance, versucht, ihn zu beruhigen. "Alles in Ordnung." Doch wenn ein Vater zum Mörder seiner eigenen Familie zu werden droht, wenn die Unschuld eines Kindes auf dem Spiel steht, dann ist nichts mehr in Ordnung. Dann ist das eine familiäre Katastrophe.

Und Katastrophen haben einen Sound, sie klingen so dissonant wie die radikale Zwölftonmusik, die der Komponist Arnold Schönberg (1874-1951) erfand. Wie viele seiner Kollegen emigrierte der Österreicher Schönberg nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten in die USA. So auch Hans Julius Salter (1896-1994), der in Amerika begann, Musik für Horrorfilme wie "House of Frankenstein" oder "The Wolf Man" zu komponieren.

Mit fremdartigen, anomalen Klängen ließ sich plötzlich Geld verdienen, dank des Horrorfilms. Atonalität, dem Mainstream-Publikum sonst kaum vermittelbar, zog in Hollywood ein. Ernest Gold, noch ein Zwölftonkomponist österreichischer Herkunft, komponierte die Musik für Stanley Kramers "On the Beach" (1959), mit der er im Jahr darauf für einen Oscar nominiert war. Ein klassisches Katastrophenszenario, die Erde nach einem Atomkrieg. Zu sehen sind die Überreste menschlicher Zivilisation, kalt und befremdlich.

Wenn Violinen die Tonleiter hinabschwirren und dissonante Akkorde erklingen, hören wir die Gefahr, ohne sie zu sehen. Doch was passiert, wenn Bild und Ton auseinanderbrechen? Wenn jemand Sex mit einer Leiche hat - und dazu sentimentale Pianomusik plätschert? "Das macht die Sache noch viel schlimmer", sagt der Berliner Horrorfilmregisseur Jörg Buttgereit. In seinem Film "Nekromantik" (1987) bringt er zwei Dinge zusammen, die für ihn zusammengehören: Sex und Tod. "Diese Bilder sind nicht schön", so Buttgereit. Und dazu habe er bewusst Musik eingesetzt, die nicht zum Bild passe und "falsche Gefühlsregungen" hervorrufe. "Dieser Bruch löst Unsicherheit und Irritation aus. Der Zuschauer ist auf sich selbst zurückgeworfen."

In seinen Independent-Produktionen arbeitete Buttgereit mit Laienschauspielern. Um deren schauspielerische Mängel auszugleichen, "war es notwendig, Musik drüberzuknallen", sagt der 50-Jährige. Befreundete Punkrock-Musiker lieferten die gewünschte Klangfarbe, "damit habe ich alles zugekleistert."

Dabei kam ihm die Idee, dass auch eingängige Melodien unheimlich klingen können, sobald man sie mit verstimmten Instrumenten spielt. So quietschen in "Nekromantik" oder "Der Todesking" (1989) verstimmte Geigen. In seinem Theaterstück "Captain Berlin vs. Hitler" (2009) ließ Buttgereit ein Mädchen die deutsche Nationalhymne flöten, obwohl oder gerade weil es nicht richtig Blockflöte spielen konnte.

Spielwiese für Außenseiter und Randfiguren

Der Berliner Filmemacher stellt Hör- und Sehgewohnheiten auf den Kopf und enttäuscht das Verlangen nach einer klaren Aussage. "Das setzt Denkprozesse in Gang", sagt Buttgereit. Der Horrorfilm war schon immer ein Raum für Subversives und Unkonventionelles, eine Spielwiese für Außenseiter und Randfiguren. Auch, was die Musik betrifft.

Seit 1993 hat Buttgereit nur noch Musikvideos, Theater- und Dokumentarfilme gedreht. Mit "Final Girl", einem Teil des Episodenfilms "German Angst", der im kommenden Jahr in die Kinos kommen soll, kehrt er nun ins Horrorfilmgeschäft zurück. Er erzählt die Geschichte eines jungen Mädchens, das mit seinem Meerschweinchen in einer heruntergekommenen Berliner Mietwohnung lebt, während im elterlichen Schlafzimmer ein gefesselter und geknebelter Mann liegt.

"Das Mädchen bekommt, ganz klassisch, ein unschuldiges Klavierthema", sagt Buttgereit, "eine Melodie, die aber suggeriert, dass etwas nicht stimmt." Genau darin besteht nämlich die große Kunst der Horrorfilmmusik. Wenn ein Mädchen in das Schlafzimmer der Eltern schleicht, wenn ein Junge wie Danny auf dem Boden kniet und Spielzeugautos über den Teppich fahren lässt, dann muss das Unheil bereits zu hören sein: misterioso.

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