Süddeutsche Zeitung

Musik:Ernste Unterhaltung

Der Minimal-Music-Komponist Philip Glass hat in London "Lodger" aufgeführt, seine Symphonie nach David Bowies Berlin-Trilogie.

Von Julia Spinola

Was fasziniert Philip Glass, den amerikanischen Vater der Minimal Music an dem britischen Pop-Exzentriker David Bowie? Bowie sei ein Diamant gewesen, erklärte Philip Glass gerade in einem Interview. Er habe unendlich viele, schillernde Gesichter gehabt, die alle gleichermaßen authentisch gewesen seien. Und sofort kommen einem die facettenreich pulsierenden Klangflächen in den Sinn, die typisch sind für Glass' Musik. Glass verfügt über die Gabe, eine musikalische Stimmung von den ersten Klängen an präzise zu treffen. Und genau so rasch wie er eine Atmosphäre erzeugt, kann er sie in eine ganz andere umschlagen lassen, wechselhaft wie das englische Wetter.

In der Londoner Royal Festival Hall ist soeben "Lodger", Glass' 19. Symphonie, zur europäischen Erstaufführung gekommen. Die Uraufführung fand im Januar unter der Leitung von John Adams in Los Angeles statt: ein 45 minütiges Riesenwerk in 7 Sätzen für volles Orchester, Orgel und Stimme. Den Vokalpart hat Glass für die beninisch-französische Jazz- und Weltmusik-Sängerin Angélique Kidjo geschrieben, die ihn sowohl in Los Angeles, als auch jetzt in London übernahm. In London war die Symphonie nun erstmals mit den beiden ersten Teilen von Glass' Bowie-Trilogie zu hören: der Symphony Nr. 1, "Low", von 1992 und der Symphony Nr. 4, "Heroes", von 1996. Um es gleich zu sagen: Der Gesamteindruck dieses Monumentalkonzertes von der Länge einer Wagner-Oper war umwerfend, allen kleinen Einwänden, die man im Detail haben kann, zum Trotz. Denn das aus lauter jungen Musikern bestehende London Contemporary Orchestra warf sich unter der Leitung von Robert Ames ("Lodger"-Symphony) und Hugh Brunt ("Low"- und "Heroes"-Symphony), so leidenschaftlich in diese Partituren, dass mit einem gängigen Missverständnis aufgeräumt wurde: Zwar ist die Minimal Music vom subjektiven Wollen und vom Ich-zentrierten Ausdrucksmantra der traditionellen europäischen Kunstmusik weit entfernt. Daraus abzuleiten, dass ihr am besten mit technizistischer Kälte beizukommen sei, ist jedoch ein Irrtum. Zu erleben war, dass diese Musik ihre Kraft gerade dann entfaltet, wenn sie in einer fein abgestuften Dynamik, mit hoch expressiver, nicht aber über-emotionalisierter Phrasierung und atmender Agogik interpretiert wird.

Bowie und Glass kannten sich seit den frühen Siebzigerjahren, sie hatten sich in der Peppermint Lounge in New York getroffen. Damals war Bowie bereits ein Star, während Glass noch als Taxi-Fahrer jobbte. Bowie und der britische Musiker und Musikproduzent Brian Eno hatten schon 1971 eines der Konzerte besucht, die Glass mit seinem Ensemble im Londoner Royal College of Art gegeben hatte. Während man hierzulande noch darauf bedacht war, die Sphären der hohen und der vermeintlich niederen Kunst fein säuberlich auseinander zu halten, schaute man einander in Amerika längst über die Schulter. Glass, der nach einer klassischen Musikausbildung an der Juillard School of Music die altehrwürdige Kompositionsklasse von Nadia Boulanger in Paris aufgemischt hatte, indem er die heiligsten Tonsatzregeln über den Haufen warf, fand in seinen schwindelerregenden Tonrepetitionen einen Weg aus den Dogmen der Neuen Musik heraus. Bestärkt in seinem Weg hatte ihn unter anderem der Sitar-Spieler Ravi Shankar. Bowie wiederum war 1977 nach Berlin gekommen, um die Drogenexzesse seiner kalifornischen Jahre hinter sich zu lassen. Das gelang ihm zwar nicht ganz, aber es entstanden in dieser Zeit zwei Avantgarde-Pop-Alben, "Low" und "Heroes" (beide 1977), auf denen er gemeinsam mit Brian Eno experimentierte: elektronische Musik, Krautrock, Ambient und Weltmusik mischten sich zu einem am Rande der Depression balancierenden, coolen Großstadtsound. Das dritte Album von Bowies sogenannter Berlin-Trilogie, "Lodger", entstand 1979 in der Schweiz und in New York, nachdem Bowie seine Berlin-Schöneberger Hinterhofwohnung bereits wieder verlassen hatte. Mit ihm kehrte er in Teilen zu seinem früheren Rock- und Pop-Stil zurück.

Glass hat sich für "Low" und "Heroes" von Bowies Blick in den Abgrund zu einer Anverwandlung inspirieren lassen, die Bowies Melodien erkennbar aufgreift, fragmentiert und in die vibrierenden Minimal-Texturen einwebt. Als die "Low"-Symphony 1992 in München uraufgeführt wurde, wirkten die Grabenkämpfe um den musikalischen "Fortschritt" in den Köpfen noch nach. Das Schubladendenken, dass den "minimalism" mit seiner Neigung zur leichten Konsumierbarkeit und seiner Nähe zur kommerziellen Musik von der hohen Warte des europäischen Ernste-Musik-Denkens aus madig machte, prägte die Feuilletons. Und auch als fünf Jahre später die "Heroes"-Symphony uraufgeführt wurde, fassten Kritiker, die etwas auf sich hielten, die vermeintlich weichgespülte Tranquilizer-Ästhetik dieser Musik nur mit spitzen Fingern an. Heute, in Zeiten des grassierenden seichten Cross-Overs, lernt man die künstlerische Aufrichtigkeit eines Philip Glass zu schätzen.

Am besten ist Glass, wenn er den Stimmungen seiner Musik vertraut, ihr Zeit lässt und ihre Wetterlagen wie archaische Naturereignisse ausbreitet. Es ist eine elementare, radikal antidiskursive Musik, die sich gleichsam subjektlos entfaltet. Sie argumentiert nicht, sie entwickelt keine musikalischen Aussagen oder Gedanken. Sie berührt tiefere, vorsprachliche Schichten. Sobald Glass freilich anfängt, etwas "sagen" zu wollen, läuft seine Musik Gefahr, banal zu werden und in den Kitsch abzugleiten. In "Low" hat er seine Kunst, atmosphärisch packende Stimmungen in den Raum zu stellen, großartig bewiesen. "Heroes" klingt an einzelnen Stellen ein wenig geschwätzig.

Der Weg zur "Lodger"-Symphonie war jetzt ein völlig anderer: Glass wirft Bowies Musik beinahe ganz über Bord und konzentriert sich auf die Texte von 7 Nummern des Albums, die er wörtlich übernimmt. Sie erzählen von der Isolation, vom Dreck und von der Aggression in der Großstadt, skizzieren eine Szene häuslicher Gewalt, entwerfen Fluchtwege in fantastisch imaginierten Reisen oder beschwören in einem "African Night Flight" eine wilde Lust aufs Leben. Der Ton des oft vom massiven Orgelklang (James McVinnie) dominierten Orchesters, ist unvermutet laut, direkt und brutal: Musik, die einem ins Gesicht schlägt. Angélique Kidjo durchschneidet mit ihrer rauchig-dunklen Soulstimme die komplex-rhythmisierten Klänge. Die Koordination mit dem Orchester wackelt gelegentlich - ein paar mehr Blicke zum Dirigenten wären angebracht gewesen. Aber dafür trifft sie mit ihrer Unumwundenheit, und ihrem furios-kompromisslosen Ausdruck den Nerv dieser Komposition. Weichgespült klingt hier gar nichts mehr. Der inzwischen 82 Jahre alte Philip Glass hat einen wieder einmal überrascht. Ob er auch noch die drei fehlenden Songs von Bowies "Lodger"-Album vertonen wird? Das lässt er im Einführungsgespräch im Londoner Southbank Centre mit einem salomonischen Lächeln offen.

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Quelle:
SZ vom 11.05.2019
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