Süddeutsche Zeitung

Musik:Abschied von den Schamanen

Peter Gülke entwirft eine Porträtgalerie berühmter Dirigenten - und vergisst die Außenseiter nicht.

Von Wolfgang Schreiber

Zu Recht ist viel von den Dirigenten die Rede, sie sind die von Rätseln umgebenen Gebieter im Musikbetrieb. Doch Peter Gülke, selbst Dirigent, Musikwissenschaftler, Träger des Siemens-Musikpreises 2014, will weder den Orchesterpotentaten noch den raunenden "Mythos vom Maestro" aufwärmen. Seine Sache ist das Aufklären über die "Kapellmeister" und ihre musikalische, historische, kulturpolitische Position. In seinem neuen Buch hat Gülke einige seiner kundigen, da und dort gedruckten Essays zu Toscanini, Furtwängler, Karajan & Co. unter dem betont nüchternen Titel "Dirigenten" versammelt.

Mit einem "Impromptu über den Dirigenten" eröffnet Gülke den Band und kommt gleich zu einem skeptischen Befund: "In keinem musikalischen Beruf reüssiert man mit so unterschiedlichen Begabungen, und bei keinem klaffen die Urteile so weit auseinander." Selbst von vielen Orchestermusikern werde das Dirigieren "entweder als leicht erlernbare Tätigkeit betrachtet oder als Äußerung irgendwelcher magischer, unbegreiflicher Himmelsgaben", zitiert Gülke den amerikanischen Dirigenten und Komponisten Gunther Schuller.

Als bestimmendes, doch nahezu geheimes Unterscheidungszeichen aller Dirigierkunst erscheint Gülke die "Differenz von Erlernbarem und Nichterlernbarem". Also der potenzielle Abstand etwa von der Schlagtechnik zur Imagination, von der handwerklichen Klangorganisation zum Charakter. Gülke macht die Differenz plausibel: "Wer als Persönlichkeit und in musikalischen Vorstellungen stark ist, bedarf der technischen Fertigkeiten nicht, auf die ein Schwächerer angewiesen ist." So kommt die Erfahrung zustande, dass "die interessantesten Dirigenten ... selten schlagtechnische Virtuosen" waren.

Genau um diese starken, die "interessantesten" Dirigenten geht es. Demnach gilt die erste Porträtskizze, da der Dirigent ja ein "Produkt des 19. Jahrhunderts" ist, dem Größten in der zweiten Hälfte eben dieses Jahrhunderts, dem Liszt- und Wagner-Schüler Hans von Bülow, dem ersten Chefdirigenten der Berliner Philharmoniker. Das Bild von Leben und Wirkung Bülows zeigt einen der originellsten Musiker seiner Zeit, den modernen Subjektivisten des Symphonischen. Da er 1894 starb, gibt es von Bülow keine Tonzeugnisse, doch der Dirigent Richard Strauss, Bülows Adept, bezeugte die Art, "wie er den poetischen Gehalt der Werke Beethovens und Wagners ausschöpfte ... Da war nirgends ein Zug von Willkür, alles zwingende Notwendigkeit."

Gülkes Skizzen über die dirigierenden Komponisten Richard Strauss und Gustav Mahler sind auch solche über die Symphoniker gleichen Namens sowie deren sehr unterschiedliche spätere Pultinterpreten. Der Autor arbeitet auch hier mittels seiner enormen Belesenheit im Spektrum literarischer Zeugnisse und zeitgenössischer Kritiken, er kann es sich leisten, fremde Urteile mit eigenen Erkenntnissen zu konfrontieren, ohne der Zitatenhuberei zu verfallen. Den Antipoden Toscanini und Furtwängler sowie Karajan wird der meiste Platz eingeräumt - nachdem Gülke für einen fast Vergessenen plädierte, den schillernden Felix Weingartner, einen auf die Spätromantiker folgenden Klassizisten am Pult, dessen historische Brahms-Aufnahmen Gülke mit Kennerschaft begutachtet. "Despot gegen Despoten, Dämon ohne Dämonie", heißt es zu Arturo Toscanini. Wilhelm Furtwängler hingegen ist für Gülke nur "der Erwählte".

Ihre Ungleichheit bestand auch darin: Furtwängler komponierte, Toscanini dirigierte "bloß". Toscaninis Ruhm und Künstlercharakter sind seit Langem, bei aller Bewunderung, entzaubert, sein technokratisches Präzisionsideal ist spätestens seit Adornos Analyse suspekt. Furtwänglers Dirigieren wird als "antiprofessionelle Meisterschaft" verortet, die Widersprüchlichkeit des genialen Musikers greifbar. Für Furtwänglers Glorienschein bis in die Gegenwart findet Gülke musikalisch überragende Gründe, dessen Rolle im Nazi-Reich ist die Tragödie eines Missverständnisses, des sich apolitisch wähnenden "reinen" Künstlertums.

Die Verabschiedung des Präzeptors im Zeichen der Versachlichung hat begonnen

Von der Diskrepanz lebt zumal die Legende Karajan. Bei aller überragenden Begabung und Könnerschaft, allem "Glanz von Karajans Klangwundern", ist Gülke überzeugt von "einem grundlegenden ästhetischen Irrtum" Karajans. Dieser gipfelt in dem Versuch, "die Musik in ihrem eigensten Wesen, ihrem Verklingen und Vergehen zu hintergehen, sie in die Vergegenständlichung der Klangaufzeichnung hinein" retten zu wollen. Dass Sergiu Celibidache an der Stelle mit seinem strikten Verzicht auf "Platten" die exemplarische Gegenfigur zu Karajan werden musste, lässt Gülke leider unerwähnt.

Die Auswahl der Porträtierten lässt weder ein Prinzip erkennen noch deutet sie auf eine Wertung in Gülkes persönlicher Rangordnung hin. Scharfsinnige Skizzen widmet der Autor auch so knorrigen Künstler wie Eugen Jochum und Rudolf Kempe, Günter Wand, Kurt Masur und Kurt Sanderling, Nikolaus Harnoncourt und Igor Markevitch. Carlos Kleiber ordnet er im Nachruf eine "gelebte, erlittene Musik" zu.

Viele der komplex durchdachten Porträtskizzen entstammen vergangenen Gelegenheiten, Jubiläums- oder Todesanläs-sen, Preisreden oder Kongressbeiträgen. Der Abschluss über "Wandlungen des Dirigentenbildes" resümiert voller Skepsis, dass "die Verabschiedung des Präzeptors längst begonnen hat", dass Dirigenten heutzutage entlastet werden durch eine "demokratische Versachlichung". Schon im Titel des Textes liegt womöglich die ganze Zukunft der Kapellmeister: "Weniger Chancen für Schamanen". Jetzt sind die jungen Dirigentinnen und Dirigenten an der Reihe.

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SZ vom 21.08.2017
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