Mal angenommen, bei "Starlight Express" würde nur ein einzelner Rollschuhfahrer durchs Publikum fahren. Angenommen, der fatale Halsbiss bei "Tanz der Vampire" würde durch Plastikfolie erfolgen. Und angenommen, beim "König der Löwen" staksten nur ein paar vereinzelte Gnus herum. All das lässt sich kaum annehmen - so albern klingt es, so popelig und der Idee dessen, was ein Musical ausmacht, komplett zuwiderlaufend. Musical ist emotionale, visuelle und auditive Überwältigung - und Überwältigung in kleiner, das geht nicht. Damit ist man direkt beim Kern des Problems, das die gesamte Musicalbranche gerade hat.
Seit Mitte März 2020 in Deutschland auch ganz offiziell die Corona-Krise begann, sind nicht nur städtische und staatliche Theater, sondern auch private Musicalhäuser geschlossen, wie die der Stage Entertainment und von Mehr-BB Entertainment, den beiden großen Player auf dem deutschen Markt. Mehr als 7000 Shows der beiden Veranstalter sind seither ausgefallen. Geschätzte sieben Millionen Zuschauer kamen nicht, die allermeisten Beschäftigten sind in Kurzarbeit. Wo sonst acht Shows pro Woche vor oft je 1400 Menschen stattfinden, feudelt seit Monaten nur der Hausmeister durch. Nicht nur hierzulande ist das so, auch der Broadway klappte die Bürgersteige hoch, das Londoner West End ebenfalls - ganze Stadtviertel, in denen das Musical auf eine hier oft stirnrunzelnd hingenommene Art geliebt und gefeiert wird. Eine ganze Branche liegt im nervösen Wachkoma.
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Mehr-BB Entertainment ist Teil der britischen Ambassador Theatre Group. Die Produktionsfirma betreibt etwa das Bochumer "Starlight Express Theater" und schickt etliche Tournee-Produktionen durchs Land. Im März 2020 sollte die Deutschland-Premiere des Theaterstücks "Harry Potter und das verwunschene Kind" stattfinden, sagenhafte 42 Millionen Euro hatte man in den Umbau einer Halle in ein Hogwarts-artiges Theater, in Marketing und Produktion investiert. Mehr als 300 000 Tickets waren verkauft, der Hype war riesig, wie bei allen Dingen, die aus dem Harry-Potter-Universum kommen. Zwei Tage vor der Premiere kam die Absage. Derzeit anvisierter Premierentermin: Dezember 2021. Rund 25 Millionen Euro hat Mehr-BB Entertainment in den vergangenen zwölf Monaten verloren.
Dem Konkurrenten Stage Entertainment geht es nicht besser. Die Firma betreibt acht Häuser in Hamburg, Stuttgart und Berlin, dazu gehört das "Theater am Hafen", wo der unzerstörbare "König der Löwen" seit einer Ewigkeit läuft. Theoretisch. Ein Jahr geschlossener Musicalbetrieb, das bedeutet für Stage Entertainment einen Umsatzverlust von etwa 300 Millionen Euro.
Mal Kultur, mal Wirtschaft
Die Mitarbeiter sind momentan vor allem damit beschäftigt, Tickets rückabzuwickeln, Termine zu verschieben und weiter zu verschieben, mit Vermietern zu verhandeln, mit Hotels und Reiseveranstaltern, denn die hängen auch mit drin. Musicals werden gern im Rundum-Sorglos-Paket gebucht, mit Anreise und Übernachtung. Die wirtschaftliche Lage ist verheerend. Zumal die Unternehmen ohne staatliche Zuschüsse wirtschaften müssen.
So richtig hatte die Nöte der Musicalbranche lange niemand auf dem Schirm. Uschi Neuss, Geschäftsführerin von Stage Entertainment Deutschland, ärgert das: "Man sortiert uns immer unterschiedlich ein. Mal sind wir Kultur, mal sind wir Wirtschaft. Wir wussten oft nicht, wer eigentlich politisch zuständig ist. Wir sind oft durchgerutscht." Zudem gehört Stage Entertainment dem New Yorker Familienunternehmen Advance Publications, was die Zuständigkeitsfrage noch erschwert.
Die Politik wusste wenig über die Arbeit von Produktionsfirmen, die eher wie Konzertveranstalter als wie Stadttheater arbeiten. Also telefonierte Neuss mit allen, beantragte November-Dezemberhilfe, Hilfe aus dem "Neustart Kultur"-Topf, da sind sie immerhin antragsberechtigt. Die Stadt- und Staatstheater konnten zumindest nicht vergessen werden, denn die subventionieren Städte und Länder ja selbst. Der künstlerische Schaden ist auch dort groß, immerhin aber stehen diese Häuser nicht vor der Frage, ob sie nach der Krise noch da sind - noch nicht.
Am Sprechtheater geht zudem wenigstens ein bisschen was: Die Ensembles probieren sich in digitalen Formaten aus, im Sommer spielten sie draußen, im Herbst war eine Weile offen. Das war oft Behelfskunst, natürlich, aber immerhin Kunst, ein Lebenszeichen. Zu experimentieren, Dinge radikal zu reduzieren, gehört zu den Vorzügen des Sprechtheaters - und muss der Magie nicht einmal abträglich sein. Manchmal reicht eine Person auf einem Stuhl für einen guten Theaterabend.
Um rentabel zu sein, brauchen die Betreiber volle Häuser
Das Musical hat diese Möglichkeiten nicht: Man kann es weder ironisch noch ästhetisch brechen, und es auch nicht aufs Wesentliche reduzieren. Es funktioniert nur live, in der Totalen, mit Sahne und bunten Streuseln obendrauf. Der wahrhaftig fliegende Teppich, die alles zum Beben bringende Stepp-Truppe, der heruntersausende Lüster, der ganze Generationen von "Phantom der Oper"-Besuchern zu Tode erschreckt hat - ganz oder gar nicht. "Wir brauchen die Inszenierung so, wie sie gedacht ist. Alle auf Abstand, das ist nicht, was wir sind", sagt Uschi Neuss. Das ist das eine Problem.
Das andere ist, dass sich ein halbes Musical vor halbem Publikum nicht rentieren würde. In dem Moment, in dem Neuss ihre Künstler aus der Kurzarbeit holt, muss die Bude wieder voll sein, damit es sich finanziell auszahlt.
Dieses Problem beschränkt sich nicht auf den deutschen Markt, wie ein Blick nach Großbritannien zeigt, wo sie Musicals fast so sehr wie Fußball lieben. Matthew Byam Shaw, Chef der Londoner Playful Productions, sagt im Telefoninterview: "Es gibt ein paar sehr erfolgreiche kleine Shows, wie Toby Marlows 'Six', über die sechs Frauen von König Heinrich VIII., die eher inszenierte Konzerte sind, und wo das funktionieren mag. Aber die Menschen erwarten doch Extravaganz und Überschwang von einem Musical - das geht nur mit voller Besetzung. Alles andere ist zu kümmerlich." Musical ist ja immer auch gemeinsamer Rausch mit anderen.
Am britischen Theater ist man es gewohnt, vollständig ohne Subventionen auszukommen. Volle Häuser sind also Voraussetzung für die Fortführung einer Produktion. Normalerweise sind diese auch garantiert - große Franchise-Spektakel wie "Starlight Express" oder "Les Misérables" sind nicht nur West-End-Hits, sondern auch Exportschlager. Ihr hoher Produktionsaufwand ist unter Pandemiebedingungen nun die Achillesferse der großen Shows.
Bühnenbildner satteln um - und werden Zimmerer
Produktionsfirmen wie Playful, die unter anderem den "Wizard of Oz"-Ableger "Wicked" (der, wenn alles plangemäß läuft, auch bald in Hamburg laufen wird) und Musical-Versionen von "Shrek" und "Dirty Dancing" betreut haben, fielen bei den Theaterschließungen im vergangenen Jahr durchs Raster: Sie hatten das Pech, genügend Eigenkapital vorweisen zu können, um nicht für den Kultur-Rettungsschirm der britischen Regierung in Frage zu kommen. Mitarbeiter wurden entlassen, etliche gingen in Kurzarbeit. "Unsere Reserven sind mittlerweile so ziemlich aufgebraucht. Das heißt, es ist auch gar nicht klar, inwiefern wir, wenn es wieder mit Live-Vorführungen losgeht, unsere von vor Corona bestehenden Produktionen wieder im gleichen Umfang hochfahren können", sagt Matthew Byam Shaw. Das gelte für alle britischen Musical-Produzenten.
Von den rund 290 000 an britischen Theatern beschäftigten Darstellern, Musikern, Handwerkern, Produktionsassistenten sind mehr als 70 Prozent offiziell Freiberufler. Gerade bei den Besetzungen von West-End-Produktionen handelt es sich nie um feste Ensembles, sondern um jeweils eigens zusammengestellte Gruppen von Selbstständigen, die für Kurzarbeit nicht in Frage kamen. Viele werden wohl auch gar nicht in ihre alten Berufe zurückkehren. Manche sind aus London weggezogen, weil für sie die Lebenshaltungskosten dort unerschwinglich sind. Andere haben umgesattelt. "Ein extrem talentierter Bühnenbildner hat eine Zimmermannswerkstatt in Cornwall gegründet", sagt Shaw. "Ich habe aber kürzlich auch einen Schauspieler, den ich sehr bewundere, in einem Supermarkt getroffen. Er hat nicht eingekauft - er war da angestellt. So etwas ist immens deprimierend."
Am 21. Juni, so hat Premier Boris Johnson angekündigt, sollen alle Distanzierungsregeln in Großbritannien aufgehoben werden. "Dann hoffen wir, auch langsam wieder zu einer Theater-Normalität zurückkehren zu können", so Shaw. Auf Touristen wartet er erst mal nicht, er spekuliert, zunächst mit dem kulturell ausgehungerten heimischen Publikum die Häuser füllen zu können.
Erst um Weihnachten werden sich die Säle wohl wieder füllen
Davon ist man in Deutschland noch meilenweit entfernt. Wie lang sie sich diesen Zustand noch leisten kann, wagt Uschi Neuss nicht zu vorauszusagen. Schlimmer kam es ja bisher immer. Stage Entertainment hat bereits 100 Stellen in der Verwaltung abgebaut, das wird aber nicht reichen, um die entstandenen Verluste auszugleichen, wenn die Theater wieder öffnen. Mehr als acht Vorstellungen die Woche spielen gehe ja kaum, die Woche hat ja nur sieben Tage. Sie werden wohl die Preise erhöhen müssen, überlegt Neuss. Und dann sind da noch die emotionalen Folgen der Krise, von denen auch Shaw berichtet. Was passiert mit Künstlerinnen und Künstlern, denen man jetzt ein Jahr lang zu verstehen gegeben hat: Ihr seid verzichtbar? "Da kommt noch ganz viel nach", fürchtet Neuss.
Es ist ihr unbegreiflich, warum die Kultur so wenig Relevanz zu haben scheint in dieser Krise. Sie vermisst den offenen Streit um diese Ungleichbehandlung. Die Leute setzten sich ins Flugzeug, bei 400 Kubikmetern Luft, das sei okay: "Es ist wissenschaftlich verbrieft, dass das sicher ist. In einem Theatersaal sind 27 000 Kubikmeter Luft - und das ist ein gefährlicher Ort?"
Neuss geht davon aus, dass erst um Weihnachten die Zuschauerränge wieder voll sein werden. Ihr kleiner Trost: Die Vorbereitungen zur deutschen Erstaufführung des Broadway-Riesenerfolgs "Hamilton", die Stage Entertainment eingetütet hat, waren bisher kaum betroffen. Die Premiere musste nur einmal verschoben werden. Bis jetzt.