Musical:Raus aus der Schmuddelecke

Die kleine hässliche Schwester der Oper? Das Musical "Evita" hat nun den Sprung an die Semperoper geschafft - und soll anderen Shows dieser Art den Weg ebnen.

Helmut Mauró

Die Personenregie ist so klischeehaft, wie das in einem ordentlichen Musical sein muss. Alles andere wäre Sabotage. Wichtig sind vor allem regelmäßig wie aus dem Nichts auftauchende Gruppenszenen: gemeinsames Marschieren, wie zufällig in den Tanzschritt verfallen, Synchron-Winken. Und über allem thront auf einem kleinen Gusseisenbalkon die unnahbar heilige Evita Perón.

Probe für Evita in der Dresdner Semperoper

Sie hat wenig Grund zu weinen: "Evita" wird in diesem Sommer an der berühmten Dresdner Semperoper gespielt. Das Bild zeigt Abigail Jaye, die die Rolle der Evita singt, bei den Proben zu dem Andrew Lloyd Webber-Musical. 

(Foto: dpa)

Dies alles und vieles mehr kann unschön klapprig wirken und oft auch ein bisschen billig. Gerade weil man über jedes Beistelltischchen noch ein paar Kilo Glitterstaub wirft, gerade weil alles teuer und wertig aussehen soll. So eine Musical-Ausstattung unterscheidet sich dann oft nicht wesentlich vom Ambiente einer Erotik-Bar in Bahnhofsnähe. Zumal, wenn die Spielstätte selbst auch nur eine etwas aufgepeppte Industriehalle ist oder ein verwunschenes Vorstadttheater.

Diesmal aber ist alles anders. Die dritte offiziell vom Komponisten Andrew Lloyd Webber abgesegnete Produktion des Musicals "Evita" spielt in keinem Musical-Theater, auf keiner Werkstatt-Bühne, nicht im Zirkuszelt und auch nicht in der brach liegenden Industriehalle am Stadtrand. Nein, "Evita" kämpft für die Armen und Unterdrückten diesmal in einem der renommiertesten klassischen Opernhäuser der Welt: in der Dresdner Semperoper. Und wie es aussieht, werden sich demnächst noch mehr Häuser dieser Art für die einst schmuddelige kleine Schwester der Oper öffnen. Wie war dies möglich? Und: Warum erst jetzt?

Die Emanzipation des Musicals

Er sagt es nicht, wie er so dasitzt in seinem zerknitterten Leinenanzug mit dem noch zerknitterteren weißen Hemd, das ein paar Knöpfe zu weit geöffnet ist, wie er sich abschirmt mit seiner blickdichten Sonnenbrille, wie auf seiner glänzenden Glatze alles abperlt, was ihn nicht interessiert. Aber auf seiner hohen Stirn steht es gleichsam in Großbuchstaben geschrieben: Wie stolz er darauf ist, dass er es geschafft hat, dass das gemeine Musical nun den Sprung in die großen, ja sogar in die renommiertesten Opernhäuser geschafft hat.

Michael Brenner ist Musical-Produzent, fing als Konzertveranstalter an, organisierte Musical-Tourneen, stemmt inzwischen auch eigene Produktionen wie Leonard Bernsteins "West Side Story" oder derzeit Andrew Lloyd Webbers "Evita".

Und während ersteres schon in der Alten Oper Frankfurt lief, haben es andere Produktionen auch an die Hamburger Staatsoper geschafft. Dennoch ist Dresden bis jetzt der absolute Höhepunkt. Dort, wo Einheimische und Touristen aus aller Welt Schlange stehen für Mozart und Wagner, prangt nun ein meterhohes Evita-Banner, und es ist, als flüstere jemand im Hintergrund dazu: Es war kein kleiner Schritt für die Semperoper, aber für die Emanzipation des Musicals vom Billigkommerz ist es ein riesiger Schritt. Ein überraschender zudem, nachdem sich die meisten Opernintendanten lange Zeit gesträubt hatten, solcherlei glitzernde Parallel-Kultur in ihrem Hause aufzunehmen.

Die Freaks vom Wanderzirkus

Gründe für die Ablehnung gab es immer: Die meisten deutschen Häuser werden voll bespielt, oft nahezu täglich, da gibt es keine freien Termine für Wandertruppen. Und in den theaterfreien Sommerferien? Da muss die Technik erneuert werden, da werden Stühle neu gepolstert, da haben auch die meisten Techniker Urlaub, die man aber als Außenstehender mit anmieten müsste. Denn dass da irgendwelche Freaks vom Wanderzirkus an den teuren Schaltpulten für Licht und Schnürboden herumfingern -das ist völlig ausgeschlossen.

Aber Michael Brenner blieb hartnäckig. So wie das schon immer seine Art war. Eine ruhige, freundliche, aber in der Sache unnachgiebige Art ist ihm eigen. Schon damals war das so, in den siebziger Jahren, als er noch seinem Jungs-Traum nachhing, in einer Band zu spielen. Und Träume sind bei Brenner kein seliger Selbstzweck, sondern eine Grobskizze für einen Plan, der ohne Umwege umgesetzt werden muss.

Stilgrenzen waren gestern

Also besorgte er sich einen E-Bass und mischte sich unter eine Schüler-Band. Allein sein sicherer Sinn für die Realität bewahrte ihn vor einer Karriere, die ins Nichts führen musste. "Ich war nicht wirklich gut als Bassist", gibt er heute zu. Da gab es Bessere. Also stellte er seinen Bass in die Ecke und machte sich daran, für die Besseren Konzerte zu organisieren. Und aus dem vermeintlichen Buchhalter-Job wurde wahre Leidenschaft. Noch heute schwärmt er von der legendären britischen Band Nektar und all den anderen, mit denen er auf Tournee war oder denen er ein paar Konzerte verschaffen konnte.

Und in seinem inzwischen stattlichen Entertainment-Imperium gibt es noch immer eine kleine Tochterfirma, die in und um Mannheim herum Live-Konzerte arrangiert. Aber so sehr er als Geschäftsmann ein Getriebener sein mag, so fundiert ist doch auch die Basis seiner Kunst-Leidenschaft. Eigentlich interessiert ihn alles, was lebendig und jetzt ist, was man an einem bestimmten Abend und nur dann erleben kann. Andere Einschränkungen scheint es nicht zu geben, denn wie kann es sonst sein, dass ein Rockfan plötzlich klassisches Ballett auf die Bühne bringt?

Keine faulen Kompromisse mehr

Das ist ja immerhin auch mit Musik verbunden, und in den seltensten Fällen mit Rockmusik. Paul Szilard, ein alternder Balletttänzer in New York hat ihn da beraten und ihm eine ganz neue Welt eröffnet. Seitdem gibt es für Brenner keine Kunstgattungs- und Stilgrenzen mehr, seitdem gibt es nur noch das musikalische Eine-Welt-Projekt, und das heißt für ihn auch: Raus aus der Schmuddelecke, rein in die großen Opernhäuser. Zunächst ging es darum, Intendanten und technische Direktoren davon zu überzeugen, dass die angebotenen Musical-Produktionen von akzeptabel hoher Qualität sind und den Ruf ihres Hauses nicht demolieren.

Dann erst konnte man damit locken, die ohnehin spielfreie Sommerzeit zu nutzen und drittens und vielleicht am wichtigsten: ein neues, auch jüngeres Publikum in das altehrwürdige Haus zu locken und somit eine wesentliche Hemmschwelle abzubauen, sich auch künftig in die Oper zu trauen, auch bei anderen Programmen, bei einer Puccini-Oper, die ja so weit vom Musical nicht entfernt ist, oder am Ende gar die große Wagner-Musikwelt zu betreten.

Nicht überall klappte die Überzeugungsarbeit, in München oder Wien hat es Brenner gar nicht erst versucht, aber er findet auch jene Häuser verlockend, die inzwischen nur noch als Konzerthäuser geführt werden wie die Alte Oper im Frankfurt oder das Pariser Théâtre du Châtelet oder die Londoner Tanzbühne Sadler's Wells. Die Tendenz ist für ihn aber klar. Kaum ein Haus kann es sich heute noch finanziell leisten, von vornherein nein zu sagen, und viele sind geradezu froh über ein seriöses Sommerangebot. Und für so große Inszenierungen wie "Evita" braucht man Sit-Down-Bedingungen. Als reines Tourstück mit Tingeltruppe, jeden Abend in einer anderen Stadthalle - das kommt für Brenner nicht mehr in Frage.

Und die kleineren Opernhäuser? "Die wollen ihre eigenen Musical-Events produzieren", sagt Brenner. "Dazu müssen sie auch ihre Sängertruppe beschäftigen, und deshalb sind selbst Koproduktionen schwierig und selten." Seit es in Wien und nun auch in Deutschland Musical-Studiengänge gibt, muss man nicht mehr in Amerika casten oder sich mit faulen Kompromissen zufrieden geben. "Inzwischen bekomme ich in Deutschland und Österreich die besten Musical-Darsteller", sagt Brenner.

Andere Häuser werden sich öffnen

Und warum hat er sich bei seinem Erfolg nicht ein eigenes Haus gebaut wie die Konkurrenten von "Stella"? "Deren Geschäftsführer waren von Haus aus Immobilien-Menschen", sagt Brenner. "Die hatten einen ganz anderen geschäftlichen Horizont. Ich interessiere mich ja nach wie vor in erster Linie für die Qualität einer Produktion." Die kurze Geschichte des vorgeblich unsubventionierten, indirekt aber doch umwegfinanzierten deutschen Musical-Wesens gibt ihm Recht. Stella ist pleite, Brenner produziert mehr und erfolgreicher denn je.

Dass er nun die Semperoper bespielt, ist zumindest für das Renommee seiner Produktionsfirma ein Höhepunkt. Ob Ulrike Hessler, die neue Intendantin in Dresden, das Sommermusical fortsetzen wird, ist noch unklar. Aber, da ist sich Brenner sicher, andere Häuser werden sich öffnen.

Und bei anderen gab es ohnehin Berührungsängste. In der Kölner Philharmonie zum Beispiel, wo eigentlich alles anfing mit Brenners eigenen Musical-Produktionen, gab es von Anfang an keine Probleme, im Gegenteil: "Wir machen damit Imagewerbung, dass wir ganzjährig spielen", sagt Intendant Lourens Langevoort, der von der Hamburgischen Staatsoper kommt. "Und das könnten wir gar nicht, wenn nicht jemand von außen während der Sommerzeit spielen würde, während wir in Urlaub sind." Ohnehin hat es lange gedauert, bis man in den großen Konzert- und Opernhäusern erkannt hat, dass in München, Berlin oder Hamburg auch im Sommer ein zahlungskräftiges Touristenpublikum unterwegs ist und auf attraktive Abend-Angebote lauert.

Bislang standen sie vor verschlossenen Türen oder ergatterten vielleicht eine kleine Führung durch die berühmten Häuser, jetzt können sie das Haus in Aktion erleben. Das begeistert auch den alten Musical-Hasen Michael Brenner immer wieder. Er sagt es nicht, aber es springt ihm nach der Premiere förmlich aus den Augen.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: