Süddeutsche Zeitung

Musical:Für Flausen und Funklöcher

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Das Musiktheaterprojekt "Imal" vertraut der Kraft der Kunst und der Jugend. Das neue Stück "Grenztänze" über die Rebellion in einem Smartphone-Kontrollstaat zeigt, dass sich die Mühe lohnt

Von Laura Helene May

Die Apothekertochter mit eigener Geige trifft auf den Rapper aus Neuperlach. Gemeinsam sollen sie ein Musiktheater auf die Beine stellen. Das funktioniert? Ja! Soziale und kulturelle Unterschiede treten durch kollektive künstlerische Arbeit in den Hintergrund - Gemeinsamkeiten in den Vordergrund.

Wenn der Gründer Vridolin Enxing über sein Imal (International Munich Art Lab) spricht, klingt es nach Utopie. Er glaubt an die Jugend, an das Überwinden von Grenzen - und vor allem an die Kraft der Kunst. Nachdem 1998 das städtisch geförderte Hip-Hop-Stück "Westendopera" Erfolge gefeiert hatte und sogar für eine Aufführung nach New York gereist war, wurde 1999 das Imal gegründet. Seitdem startet alle zwei Jahre ein Projekt, in dem etwa 30 Jugendliche zwischen 16 und 25 Jahren ein Stück entwickeln und aufführen. Das Besondere daran ist, dass die jungen Kunstschaffenden von Komposition und Dramaturgie über Bühnenbild bi zu den Kostümen alles selbst entwickeln. Ein professionelles Team gibt den Teilnehmenden Coachings in Gesang, Rap, Tanz, Schauspiel und Bühnensport. Der diesjährige Regisseur Kilian Freiberger kam ursprünglich von der sehr leistungsorientierten Bosl-Stiftung zur Imal. Das ist eine ganz andere Welt, "hier haben die Leute halt Mitspracherecht", sagt der Tänzer und Choreograf.

Bewerben kann sich hier jeder und jede, egal mit welchem Hintergrund, auch ohne Schulabschluss. Die Jugendlichen müssen lediglich kreativ sein und "bereit, sich zwei Jahre wie Profis zu verhalten", so Enxing. Man brauche in kaum einem anderen Beruf so viel Disziplin wie als Künstler. Erwarten könnten die Bewerber "wenig Geld, viel Arbeit, dafür aber viel Spaß". Nach dem zweijährigen Projekt seien die Absolventen auf jeden Fall entscheidungsfähig. "Dann bestimmen nicht mehr Mama, Papa oder das Arbeitsamt über die berufliche Zukunft."Die Eltern stünden dem Wunsch nach einer künstlerischen Ausbildung oft skeptisch gegenüber und tun diesen als "Flausen" ab. "Wir verstärken diese Flausen dann", sagt Vridolin Enxing etwas stolz.

In manch konservativer Familie stehe der Schauspielberuf, vor allem bei Mädchen, auf einer ähnlichen Ebene wie der von Prostituierten, sagt Enxing. Spricht er mit den Eltern, seien diese dann aber oft beruhigt. Denn die Imal bietet weit mehr als eine künstlerische Ausbildung. "Die Kinder sind hier jeden Tag von zehn bis halb sechs, essen gesund und kochen selbst." Nach dem Projekt seien sie selbständig und könnten dann entscheiden, ob die Kunst zum Beruf oder zum Hobby wird.

Dass die Imal nur ein Projekt für die soziale Unterschicht ist, ist laut Enxing ein Trugschluss. "Bürgerliche Verwahrlosung" sei auch eine Benachteiligung. Oft sei er schockiert, wie verwahrlost gerade Kinder aus wohlhabenden Familien seien, um die sich nie jemand richtig gekümmert habe. Grenzen von Milieus sollen überwunden werden. Beide Seiten können etwas voneinander lernen. Bürgerliche Kinder hätten zum Beispiel einen Begriff davon, dass Kunst etwas wert ist. Der Rapper aus Neuperlach dagegen bekomme in seinem Umfeld vielleicht weniger Anerkennung und Geld für seine Kunst, sei dafür aber mit dem Hip-Hop leidenschaftlich verbunden. "Wir fördern Stärken - Zeugnisse wollen wir nicht sehen", sagt Enxing. Man könne die Arbeit hier nur machen, wenn man die Kinder liebe und verzeihen könne. Den manchmal trotzigen Jugendlichen zum Trotz müsse man Sympathie und Antipathie hinter Empathie zurückstellen können.

Dieses Jahr ist das neue Stück "Grenztänze" fertig für die Bühne. Das Resultat aus zwei Jahren Arbeit zeigt eine Gesellschaft mit "totaler Handyverbreitung im ganzen Land". Bei einer der letzten Proben ist die Anspannung zu spüren, die die immer näher rückende Premiere mit sich bringt. Jeder ist dafür verantwortlich, dass alles glatt läuft; den Jugendlichen wird alles zugetraut. Auf die Frage einer Darstellerin nach dem passenden Ausdruck antwortet der Regisseur nur: "Jeder weiß ja, in welcher Stimmung er ist." In dem Stück geht es um Datenschutz, eine kleine rebellische Aussteigergruppe, die versucht, in einem Funkloch ein selbstbestimmtes Leben zu führen, und einen mächtigen Internetkonzern, der trotz mangelndem Empfang seine Finger im Spiel hat.

Mehr als die Hälfte des Stückes besteht aus Tanz, und es wird viel gerappt und gesungen, um den Fesseln des Systems zu entkommen. Die Geschichte ist dystopisch und hochaktuell. "Wir sind immer am Zahn der Zeit, weil die Jugendlichen alles selbst machen", so Enxing. Der Dystopie der Grenztänze-Welt stehen zwei Utopien entgegen: Auf der einen Seite die der Rebellengruppe, deren Credo ist: "Die neue Welt entspringt keinem virtuellen Netz, sondern entspringt aus Solidarität." Zum anderen die Utopie des Vridolin Enxing und seines Imal. Selbst das "V" in seinem Namen entspringt dem Glauben an eine bessere Welt: Es ist ausgedacht, sein Name hätte ihm nicht gefallen, "V" stehe für Victory und Vietkong, "das hat einfach gut gepasst".

Grenztänze , Mo.-Fr., 22.-26. Juli, 20 Uhr, Sa., 27. Juli, 18 Uhr, Bavaria Studio 6, Bavariafilmplatz 7, karten@imal.de

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Quelle:
SZ vom 22.07.2019
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