Museumsserie 18:Tote Steine als stumme Zeugen

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Von einer der größten jüdischen Gemeinden Bayerns erzählt die Synagoge in Ichenhausen

Von Eva-Elisabeth Fischer, Ichenhausen

Hier gibt es zwar keine Juden mehr, aber die "Judenrutsch", die gibt es noch. Nach wie vor nennen die Einheimischen die Mittelschwabenbahn von Günzburg nach Mindelheim so, weil die meisten Fahrgäste seinerzeit jüdische Händler waren. So erzählt es Karin Beh, Betreuerin der ehemaligen Synagoge zu Ichenhausen, die gelegentlichen Besuchern das einstige jüdische Leben in ihrer kleinen Stadt nahebringt. Nicht gern hingegen, so sagt sie, redeten die alten Ichenhauser davon, wie auf Geheiß der NSDAP-Kreisleitung in Günzburg, einer Stadt mit historisch gewachsenem Antisemitismus, nach der Pogromnacht am 9. November 1938 noch am Morgen des 10. der Innenraum der bis dahin unbeschädigte Synagoge zerstört und der jüdische Friedhof geschändet wurden. Zwischen 1941 und '43 band man die Juden, die nicht geflohen waren, es waren 122, in drei "Aktionen" mit Stricken aneinander wie Vieh und führte sie so zum Bahnhof in die Todeszüge. Am 8. März 1943 war Ichenhausen "judenrein".

Abgebrannt hat man die Synagoge nur deshalb nicht, weil ein Feuer auf die Nebenhäuser übergegriffen hätte. Deswegen gibt es sie noch. Sie wurde aufs Schönste restauriert und "Haus der Begegnung" genannt, was ein bisschen nach DDR klingt, und dient nun als Museum zur Dokumentation der reichen jüdischen Geschichte des Ortes mit einer vom Haus der Bayerischen Geschichte eingerichteten Dauerausstellung "Juden auf dem Lande - Beispiel Ichenhausen". Wobei die Begegnungen eher selten sein dürften, vor allem deshalb, weil das Haus nur jeden vierten Sonntagnachmittag im Monat geöffnet ist.

Die prächtigen Säulen des Thoraschreins konnten gerettet werden, als der Innenraum der Synagoge beim Novemberpogrom zerstört wurde. (Foto: Eva-Elisabeth Fischer)

Einmal im Jahr, in der Woche der Brüderlichkeit, unterrichten hier Neuntklässler des Dossenberger Gymnasiums aus Günzburg ihre Mitschüler aus der vierten Klasse über jüdisches Leben. Die Kinder werden anhand von originalem Anschauungsmaterial viel zu erzählen haben, zum Beispiel, dass der erste Jude in Ichenhausen im Jahr 1541 beurkundet wurde, dass im Jahr 1830 1200 Juden hier lebten, das waren 48 Prozent der Bevölkerung. Diese hatten sich im Lauf der Jahrhunderte hier angesiedelt, weil sie woanders vertrieben wurden, zum Beispiel Anfang des 17. Jahrhunderts aus den Städten in nächster Umgebung, aus Günzburg und Burgau.

Vor und nach dem Judenedikt in Bayern 1813 lebten Christen und Juden einträchtig nebeneinander. Die Juden trugen bis über die Gründerjahre hinaus entscheidend zur wirtschaftlichen Blüte Ichenhausens bei, Viehhändler wie auch Fabrikanten, am meisten gewiss die Sulzers mit ihrer Firma für Herrenoberbekleidung. Das bürgerliche Wohlleben, die Eintracht hielt vor zumindest solange, bis Nazis im Jahr 1929 Grabsteine auf dem Jüdischen Friedhof umwarfen. Die Synagoge mit ihrer klassizistischen Fassade, 1781 als Erneuerung der alten Synagoge von 1687 angeblich von Kirchenbaumeister Joseph Dossenberger erbaut, ist mit ihrem chlorgrünen Anstrich schon ein Augenschmaus. Im Keller ist noch das hauseigene Ritualbad, die Mikwe, zu besichtigen, die allerdings bereits 1808 durch eine "warme Dauch" im Haus des Kantors ersetzt wurde.

Das Interieur der Synagoge wurde etwa 100 Jahre später, also Mitte der 1980er Jahre, nach dem Vorbild der letzten Renovierung um 1890 erneuert. Das azurblaue, goldbestirnte Himmelsoval an der Decke mit Stuckumrandung ist der augenfälligste Schmuck des durch große Bogenfenster erhellten Raumes. Am Wanddekor, an den Fenstermotiven entdeckt man jugendstilige Blumenmuster. Der zerborstene Thoraschrein wurde durch eine Replik als trompe l'oeil-Wandmalerei ersetzt. Dessen Säulen konnten gerettet werden ebenso wie die Kerzenleuchter-Sockel, zu sehen in der Ausstellung. Deren größter, über die Grenzen Schwabens hinaus berühmter Schatz liegt in Schubladen verborgen. Es sind 90 handgestickte Thorawinkel mit ihrer berückend naiven Bildsymbolik, genäht aus je drei Beschneidungswindeln, gefunden in der Genisa, dem Synagogenspeicher für ausgediente Ritualgerätschaften und Thorarollen. Die Thorawimpel ersetzen das fehlende Geburtenregister der Ichenhauser Juden.

Selbst wenn heute noch jemand Thorawimpel bestickte - in Ichenhausen wurde nach 1943 kein Jude mehr geboren. Von der einstmals zweitgrößten jüdischen Landgemeinde Bayerns nach Fürth hat nur eine Frau die Schoah überlebt. Es heißt, sie habe einmal den Friedhof ihrer alten Heimat besucht. Der 1570 angelegte jüdische Friedhof im Süden ist heute der einzig wirklich authentische jüdische Ort. Idyllisch unter deutschen Eichen liegen an die achttausend Gräber aus drei Epochen, die Steine schief, die Inschriften verschliffen. Hier kommt es gelegentlich zu Familientreffen, wenn Nachkommen, von weither angereist, Steine auf die Gräber ihrer Toten legen. Um anschließend vielleicht in die "Judenrutsch" zu steigen wie ihre Vorfahren vor vielen, vielen Jahren. Hin zu den Lebenden.

© SZ vom 12.09.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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