Süddeutsche Zeitung

Museum in Dänemark:In Sicherheit? Alltag? Zuhause?

Ein Museum zum Thema Flucht eröffnet in Dänemark - einem Land, dessen Regierung "Null Asylbewerber" als Ziel verkündet hat. Er stoße "in ein Wespennest", soll der Direktor gewarnt worden sein.

Von Mette Mølgaard

Da sitzt ein kleiner Junge, geformt aus Kupferdraht, auf einer Schaukel und hält ein Stück Schokolade in der Hand. "Zuhause?", so ist der Raum überschrieben. Der Junge heißt Jörg, Jörg Baden. Es ist das erste Stück Schokolade seines Lebens, und es ist ein Stück Weltgeschichte, das sich am Ende des Zweiten Weltkriegs abspielte und das heute hier in der dänischen Provinz nachgestellt ist.

Jörg Baden ist eine von acht menschlichen Figuren aus Kupferdraht, die jeweils einen Flüchtling darstellen. Ihre Geschichten kann man sich seit Samstag anhören und nacherleben, im ambitionierten FLUGT-Museum in Oksbøl, einem kleinen Dorf an der dänischen Nordseeküste. Es hat sich mit dem Museum einiges vorgenommen, unter anderem, der dänischen Museumsprovinz ein wenig Weltgeltung zu verleihen. Das Thema ist ein historisches und könnte doch aktueller nicht sein: die Flucht.

"Es ist eine große Ehre, hier vertreten zu sein", sagt der 82-jährige Jörg Baden mit Blick auf sein aus Draht geformtes junges Ich. Er ist aus Kleve angereist. Der kleine Jörg Baden sitzt auf der Schaukel im Garten seiner Großeltern. Da hat er die Flucht am Ende des Krieges und die mehr als zwei Jahre im Lager Oksbøl gerade hinter sich und ist soeben nach Deutschland zurückgekehrt. Es ist das erste Mal, dass er Schokolade gekostet hat.

"Ich hoffe, dass die Besucher des Museums erkennen werden, dass wir einen offenen Geist und ein offenes Herz für Menschen in Not haben müssen", sagt Jörg Baden. "Dies ist ein Museum der Gegenwart, nicht nur ein Museum der Vergangenheit. Denn solange Menschen vor Naturkatastrophen, wirtschaftlicher Not oder vor Krieg fliehen, werden wir das Problem nicht los." Baden ist überwältigt, ihm stehen die Tränen in den Augen.

Früher stand hier ein von der deutschen Wehrmacht errichtetes Flüchtlingslager

Am Samstag wurde FLUGT offiziell von Königin Margrethe II. eingeweiht. Anwesend waren auch Deutschlands Vizekanzler Robert Habeck sowie Stararchitekt Bjarke Ingels, dessen Büro das Gebäude entwarf.

Seit 15 Jahren träumt Claus Kjeld Jensen, der Direktor des Museums, von diesem Museum. Die Geschichte von Oksbøl wollte er erzählen. Das dortige Lager wurde einst auf Befehl Adolf Hitlers im besetzten Dänemark von den deutschen Truppen gebaut, um Zuflucht zu schaffen für deutsche Flüchtlinge aus den Ostgebieten des Reiches in den letzten Tagen des Krieges. "Hier hat die Weltgeschichte unsere Region heimgesucht", sagt Jensen.

Das Museum wurde von der Bjarke Ingels Group entworfen, die es als "Herzensangelegenheit" beschreibt. Warum fliehen Menschen? Überleben sie die Flucht? Werden sie zurückgeschickt? Das Museum verfolgt Fragen wie diese entlang zweier Stränge, denen die Gäste über einen Audioguide lauschen können. Die Hauptgeschichte handelt von der Historie des Ortes, von den deutschen Flüchtlingen. Im zweiten Strang geht es um die, die später kamen: Es werden die Flüchtlingsströme der vergangenen 50 Jahre nachgezeichnet.

So verwebt sich die Vergangenheit mit der Gegenwart, in der Ausstellung wie auch in der Architektur: Die roten Backsteingebäude, einst das Krankenhaus im Lager, sind erhalten geblieben und jetzt mit einem Neubau verbunden. Von außen wirkt das neue Gebäude wie eine geschlossene Wand aus Stahl, aber nach dem Eintritt steht man in einem lichtdurchfluteten hohen Raum aus Holz und Glas. "Hier finden Sie ein Refugium", sagt Chefarchitekt Bjarke Ingels.

Das Flüchtlingslager Oksbøl war das größte in der dänischen Geschichte. Mehr als 250 000 deutsche Zivilisten kamen nach einer oft dramatischen Flucht vor den Truppen der Sowjetarmee über die Ostsee im besetzten Dänemark an. Zu Spitzenzeiten beherbergte das Lager 35 000 Deutsche, darunter viele Frauen und Kinder. Nach Kriegsende waren die deutschen Flüchtlinge in Dänemark nicht sehr beliebt, aber sie bekamen weiterhin Unterkunft, Essen und Schulbildung für ihre Kinder.

In dem Raum, der am ehesten einem traditionellen Museum ähnelt, sind alte Bilder vom Leben im Lager zu sehen. Es war damals die fünftgrößte Stadt Dänemarks: eine Stadt hinter Stacheldraht mit einer eigenen Schule, einem Krankenhaus und einem Theater.

Jeder Raum hat einen Titel - mit Fragezeichen

Aber die Historie greift hier nach der Gegenwart. Das Thema von FLUGT ist mit dem Zeitpunkt seiner Eröffnung doppelt relevant geworden: Der Krieg hat rund fünf Millionen Ukrainer in die Flucht getrieben - etwa 30 000 von ihnen nach Dänemark.

Das niederländische Unternehmen Tinker Imagineers ist verantwortlich für die interaktive Gestaltung, die die Besucher mit Ton und Bildern eintauchen lässt in die Erfahrungen der Flüchtlinge. Von Krieg und Flucht zu möglicher Sicherheit, einem wiedergewonnen Alltag und (vielleicht) zu einer neuen Heimat. Jeder Raum hat einen Titel: "Fliehen?", "In Sicherheit?", "Alltag?", "Zuhause?" Die Fragezeichen sind kein Zufall.

"Fliehen?" etwa erzählt in sechs Räumen von den Momenten, in denen sich Menschen zur Flucht entschlossen. Hier schildert die 21-jährige Rahima Abdullah, wie sie 2015 im Alter von 11 Jahren mit ihrer Familie aus Syrien nach Dänemark floh. Auch sie - sechs Jahrzehnte jünger als Jörg Baden - war bei der offiziellen Eröffnung anwesend.

"Ich liebe dieses Museum. Hier vereinen sich unsere Schicksale. Hier sind alle Menschen auf der Flucht gleich", sagte Rahima Abdullah in ihrer Rede. In den größten Krisen erlebten die Menschen stets, wie ähnlich sie einander eigentlich seien. "Und doch", fuhr sie fort, "erleben wir auf der ganzen Welt, aber auch hier in Dänemark, dass die Flucht und das Schutzbedürfnis eines jeden nicht gleich viel wert sind."

Das zielt ab auf einen heiklen Punkt: Dänemarks Umgang mit Flüchtlingen wird seit ein paar Jahren stark kritisiert. Die EU, aber auch das UN-Flüchtlingskommissariat haben die sozialdemokratische Regierung des Landes mehrmals an den Pranger gestellt wegen Alleingängen in der Flüchtlingspolitik oder offiziell formulierten Zielen wie jenem, das "Null Asylbewerber" auf dänischem Boden vorsieht.

So war es in Dänemark beispielsweise illegal, syrischen Flüchtlingen zu helfen - aber jene Dänen, die an die polnische Grenze fahren, um dort Ukrainer abzuholen, werden gelobt. Während Syrer in ihrer ersten Zeit in Dänemark nicht arbeiten durften und in Asylzentren leben mussten, erhalten Ukrainer direkt eine Aufenthaltsgenehmigung und die Chance, so schnell wie möglich eine Arbeit und eine eigene Wohnung zu finden.

Im Raum "Sicherheit?" gibt es ein Bild des "Spuckers", jenes Dänen, der 2015 syrische Flüchtlinge auf dänischen Autobahnen bespuckt hat. "Viele Jahre lang hatten Politiker Angst davor, zu freundlich zu Ausländern zu sein, und dachten, es sei besser, Flüchtlingen und Einwanderern gegenüber ein wenig feindselig zu sein", sagt Museumsdirektor Claus Kjeld Jensen. "Aber ich glaube, die Menschen sind positiver eingestellt als die Politiker, und ich denke, die Ukraine-Krise zeigt uns das. Als die Ukrainer kamen, änderte sich die Art und Weise, wie wir über Flüchtlinge sprechen."

Auf dem Weg zum Museum hätten ihn viele gewarnt, erzählt der Direktor

Auf einem langen Tisch liegen Ausschnitte aus Zeitungsartikeln über die Flüchtlingsdebatten in Dänemark. Jensen wünscht sich Besucher, die diskutieren. "Zum Beispiel, ob es besser ist, das Problem dort anzugehen, von wo die Menschen fliehen, oder sie in Dänemark aufzunehmen."

Die Ruanda-Pläne der dänischen Regierung sind ein aktuelles Streitthema. Die Regierung strebt an, dass praktisch alle Asylbewerber, die die dänische Grenze erreichen, umgehend in ein Aufnahmelager nach Ruanda ausgeflogen werden, während ihr Fall bearbeitet wird. Viele kritisieren den Plan, nennen ihn unmenschlich und ausländerfeindlich.

Der Umgang mit einem Thema wie dem Umgang mit Flüchtlingen spaltet die Menschen. Die Planung des Museums hat 15 Jahre gedauert. Auf dem Weg dorthin hätten ihn viele gewarnt, erzählt Direktor Jensen: "Sie sagten: Tu es nicht. Du steckst deine Hand in ein Wespennest." Er sei aber immer der Meinung gewesen, dass man sich nicht wegducken solle, nur weil etwas schwierig ist. "Wenn es schwierig ist, liegt es wahrscheinlich daran, dass es wichtig ist", sagt Jensen, und fügt hinzu: "Manche werden uns kritisieren, das Museum sei keine gute Idee. Aber denken Sie daran: Es handelt sich dabei nicht um ein Statement gegenüber dänischen Politikern. Es ist ein Museum, das einen Teil der Weltgeschichte zeigt, die sich hier abgespielt hat."

Der Direktor erwartet, dass jedes Jahr etwa 100 000 Menschen das Museum besuchen werden. Er hofft, dass sie etwas über die zwischenzeitlich fast vergessene Geschichte der deutschen Flüchtlinge auf dänischem Boden lernen. "Und ich hoffe, dass das Museum ihnen die Augen dafür öffnet, dass dieses Thema immer noch aktuell und relevant ist. Das ist eine große Herausforderung für die ganze Welt, und wir müssen uns ihr stellen", sagt Claus Kjeld Jensen.

Der letzte Ausstellungsraum heißt "Nachdenken". Dort erzählen Flüchtlinge, die nach Dänemark gekommen sind, wovor sie geflohen sind, wie sie geflohen sind und wo sie sich zu Hause fühlen. Für FLUGT ist es von zentraler Bedeutung, dass die Flüchtlinge selbst ihre Geschichten erzählen. FLUGT gibt den Zahlen ein Gesicht. Es macht sie zu Menschen mit Familien, Freunden, Jobs, Hobbys und vor allem Träumen für die Zukunft.

Letztlich schenkt das Museum dem Besucher diese Frage: Was, wenn ich das wäre?

Mitarbeit: Kai Strittmatter

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