Münchner Volkstheater:Vieler Rätsel Lösung

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Ruth Bohsung in "Die verlorene Ehre der Katharina Blum" am Münchner Volkstheater. (Foto: Gabriela Neeb)

Das Volkstheater in München eröffnet seine Saison mit Bölls "Die verlorene Ehre der Katharina Blum" und "Pussy Sludge" der jungen Gracie Gardner und zeigt, warum es so erfolgreich ist.

Von Egbert Tholl

Gracie Gardner wurde 1991 geboren, lebt in Los Angeles und hat eine Abscheu gegenüber jeder Tendenz, die versucht, Menschen in normierende oder normative Raster zu pressen. Das merkt man ihrem Schreiben an. Für ihr Stück "Pussy Sludge" erhielt sie bereits 2017 den "American Playwriting Foundation's Relentless Award", der mit 45 000 Dollar dotiert ist und außergewöhnlich mutige Theaterstücke auszeichnet. Das passt. 2019 tauchte "Pussy Sludge" beim Stückemarkt des Berliner Theatertreffens auf, nun besorgte Mirjam Loibl die deutschsprachige Erstaufführung am Münchner Volkstheater, und auch wenn nach der Premiere kaum jemand in zwei, drei Sätzen sagen kann, worum es in dem Stück geht, so weiß man doch, dass man gerade einen tollen Theaterabend erlebt hat.

In der vergangenen Saison war das Volkstheater das Theater in München, das am besten durch die (Post-)Corona-Krise kam. Ein Grund dafür ist sicherlich die anhaltende Sensation des vor einem Jahr eröffneten neuen Hauses. Wichtiger ist aber, dass man hier nie weiß, was einen erwartet, außer dass es aufregend werden könnte, das schärft das Interesse, und auch die verstiegensten Unternehmungen werden hier dem Publikum einfach so untergejubelt. Die Absenz von großformatigem, dramaturgischen Gedöns in den Ankündigungen schafft jene Niederschwelligkeit, nach der alle Theater gieren, die aber nur wenige erreichen. Und dann ist da natürlich noch die Tatsache, dass in Christian Stückls Haus vor allem noch recht junge Menschen auf der Bühne stehen.

Das Münchner Volkstheater schafft etwas, nach dem alle Theater gieren

Dass deren Charme mitunter endlich sein kann, beweist allerdings "Die verlorene Ehre der Katharina Blum", Heinrich Bölls Erzählung, die Philipp Arnold in der Fassung von John von Düffel auf die große Bühne bringt. Damit eröffnet das Volkstheater die Saison ("Pussy Sludge" folgt drei Tage später). Bölls Entrüstung über Polizeiwillkür und sensationsgeilen Boulevardjournalismus wirkt hier erst einmal - angesichts heutiger Internetbelästigungen - leicht museal. Die Polizisten sind hier viel zu trottelig, der schmierige Reporter nicht gefährlicher, als dass einmal Ohren-Langziehen ihn nicht in seine Schranken wiese. Aber: Ab einem gewissen Punkt verdoppelt Arnold, dessen Inszenierung ein Video-Blow-up des Livegeschehens ist, die Figur der vermeintlichen Terroristenhelferin Blum. Zwei Katharinas stehen dann auf der Bühne, Ruth Bohsung und Nina Steils, und ohne dass man diese Verdopplung versimplifizierend einordnen könnte, ist sie ungeheuer faszinierend. Ein Rätsel, aber ein schönes, eine doppelte Introspektive der Figur, die in der Präzision fast ans stumme Spiel in Kroetz' "Wunschkonzert" erinnert.

Fast eine mögliche Liebe: Anne Stein (li.) und Henriette Nagel in "Pussy Sludge". (Foto: Konrad Fersterer)

Freilich, was Rätsel angeht, hat Gardners "Pussy Sludge" deutlich mehr zu bieten. Pussy Sludge, die Titelfigur, sondert aus ihrer Vagina unendliche Mengen Erdöl ab, sie verlässt ihr Zuhause und lebt in ihrem eigenen Sumpf in einem Nationalpark. Dort kommen verschiedene Menschen vorbei, die alle was von ihr wollen, was sie meist nicht will, die Mutter, ein seltsamer Verehrer, der Konservendosen liebt und Unsinn redet, eine junge Frau, zu der sie aus einem gemeinsamen Masturbieren heraus eine Art von Beziehung entwickelt, ein Ranger und weitere verlorene Figuren, deren Wahrnehmung ausschließlich um die eigene Befindlichkeit kreist. Dazu entwickelt der Öl-Sumpf ein organisches Eigenleben.

Mirjam Loibl nimmt die trickreich verschraubten Sätze, wie sie kommen, lässt alle Beteiligten frei und lustig spielen, begreift klug das Stück als surreale, frei schwebende Metapher, die sehr viele mögliche Antworten auf Fragen der (geschlechtlichen) Selbstbestimmung enthält. Die Bühne birst vor Einfällen, gemalte Eierstöcke säumen die Öl-Vagina im Bühnenboden, die Figuren sind fantastisch ausstaffiert, tausend Ideen, alle gut, wenige unmittelbar zu erklären. Und doch zielt alles auf die gelassene Freundlichkeit von Henriette Nagel als Pussy Sludge, auf die Sprachbrillanz von Anne Stein und das ulkige Treiben der anderen drei. Schauspielertheater einer nicht erklärten und nichts erklärenden Dimension, das auf ganz eigentümliche Art Freude macht.

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