Süddeutsche Zeitung

Spielzeitbeginn der Münchner Kammerspiele:Beneidenswert frei

Wie starten die Kammerspiele unter ihrer neuen Intendantin Barbara Mundel? Mit einem Happening auf dem Odeonsplatz, einer Körperperformance und einem Soloabend voll sehr guter Laune.

Von Egbert Tholl

Es schreitet heran eine Königin. Lange harrt die Bühne des Schauspielhauses ihrer, man sieht zunächst nur einen Felsen, einen schwebenden Kegel aus Neonröhren, der wie das stabile Skelett eines Reifrocks wirkt, ein Gemälde an einer Stange, das eine grantige Bäuerin aus dem 19. Jahrhundert zeigt. Und man hört Worte aus dem Off: "Es gibt einen Körper ohne Ort, einen Körper mit Zukunft. Ich bin ein Anfang, eine offene Biografie, eine Einladung." Dann wurschtelt sich Julia Häusermann unter dem Gemälde hervor, rupft es ab, trägt es wie einen Krönungsmantel, während sie die Bühne abschreitet. Schließlich legt sie den Mantel ab, steht da mit T-Shirt und der geliebten orangen Frotteehose, lässt sich mit huldvoller Geste einen Strauß Kornblumen reichen und beginnt, das Publikum zu verzaubern.

Sie ist ein Star und sie hat Trisomie 21 - Julia Häusermann verzaubert

An diesem Wochenende setzt sich die Eröffnung der Münchner Kammerspiele unter der neuen Intendanz von Barbara Mundel fort, und die Begegnung mit Julia Häusermann in ihrer Produktion "Ich bin's Frank" gehört zum Wundervollsten, was man auf dem Theater erleben kann. Häusermann gehört seit zehn Jahren zum Schweizer Theater Hora, erhielt den Alfred-Kerr-Preis, spielte in aufsehenerregenden Inszenierungen wie etwa Milo Raus "120 Tage von Sodom" mit, sie ist ein Star und hat Trisomie 21. In ihren Worten bedeutet das, dass sie ein Chromosom mehr habe als das Publikum.

Auf der Homepage der Kammerspiele ist zu lesen, diese seien "ein ästhetisches Organ, ein soziales Organ, ein Organ, das versucht, Freiheiten auszuweiten". Die Homepage wurde von der Stiftung Pfennigparade erstellt, einem Rehabilitationszentrum für körperbehinderte Menschen. Leider fehlt auf der Seite noch das eine oder andere. Das stört aber das Organ der Stadt nicht, das für alle da sein will. Aus diesem Grund gibt es am Samstagnachmittag eine Art Happening auf dem Odeonsplatz, es spielt eine für diesen Anlass zusammengestellte Multikultiband ziemlich gute Musik, vorbeikommende Bürgerinnen und Bürger werden um ihre Stimme gebeten. Sie können auf hübschen Kärtchen Fragen beantworten wie die, ob alles noch schlimmer werde oder was sie täten, wären sie Königin oder König von München. Das Ensemblemitglied Komi Togbonou liest die Antworten vor, die einen gemahnen München an das Erbe der hier vor 100 Jahren versuchten Revolution, die anderen wollen ein Verbot von Zigaretten. Anarchie und Ordnungswille liegen nahe beieinander.

Daneben kann man sich fotografieren lassen, nach dem Vorbild einer Idee von Jeremy Deller soll mit "What is the City?" ein Tableau der Einwohnerschaft entstehen. Eine Fotowand ist schon fertig, darauf erkennt man Lukas Rüppel, Schauspieler und Ensemblemitglied des (staatlichen) Residenztheaters. Ansonsten müssen sich die Münchnerinnen und Münchner noch ein wenig anstrengen, bis sie mit diesem Massenporträt auch nur annähernd die Diversität der Mitarbeiter der Kammerspiele erreichen. Geht man ums Eck in die Fußgängerzone hinein, stehen dort mehr Menschen vor einem Laden an, der unter prekären Bedingungen hergestellte Billigklamotten verkauft, als zuvor auf dem Odeonsplatz versammelt waren.

Alle diejenigen, die an Mundels Vorgänger Matthias Lilienthal verzweifelten und von dessen Auffassung eines in alle Richtungen offenen Theaters überfordert waren, werden ihre Sehnsucht nach klassischer theatraler Aufbereitung alter Theatertexte noch ein wenig hintanstellen müssen. Schon als Intendantin in Freiburg drängte Mundel das Theater in die Stadt hinein, mit einer gewissen Beflissenheit versucht sie nun in München Stadttheater zu machen, das in einer Art Vorbildfunktion alle Aspekte berücksichtigt, die man heute halt so berücksichtigen muss. Ihr Ensemble ist bunter und diverser, als das von Lilienthal je war, auch zwei Menschen mit körperlicher Behinderung gehören dazu.

Wie viel dieses Ensemble zu leisten imstande ist, wird man erst im Laufe der Zeit sehen. Bislang gab es, neben dem Happening in der Stadt: Falk Richters mit Oberflächenreizen nicht geizende Lockdown-Revue "Touch", das Solo von Julia Häusermann und "Habitat", eine Performance von Doris Uhlich mit nackten Münchnerinnen und Münchnern. Es ist die Pandemie-Version einer Massenperformance aus dem Jahr 2019, in der Uhlich die Absurdität von Körpernormen und Schönheitsidealen untersuchte, eine Thema, das sie schon lange umtreibt. Statt damals 120 stehen nun zwölf nackte Menschen in der Therese-Giehse-Halle. Früher war das die Spielhalle, dann die Kammer 2, nun ist der Ort nach der Schauspielerin benannt, die auch Jüngeren noch bekannt sein sollte als die grundrenitente Oma aus Helmut Dietls Fernsehserie "Münchner Geschichten", womit die Umbenennung auch eine Verheißung des Widerständigen ist.

Die Akteure robben über den Boden wie eingeschweißte Putenschnitzel

Die zwölf Menschen setzen sich in Bewegung, patschen ihr Fleisch auf den Boden, schütteln ihre Leiber, arbeiten sich ab an Choreografien, die in ihrer immer wieder durchbrochenen Einheitlichkeit gerade die Individualität der Körper betonen, dicke Körper, dünne, zwei, drei trainierte und der höchst fragile des Ensemblemitglieds Erwin Aljukić. Das schafft Zutrauen in die eigene physische Nichtperfektion und wird dann sehr lustig, wenn die Akteure dicke Plastikoveralls anziehen und über den Boden robben wie eingeschweißte Putenschnitzel aus der Gefriertruhe, die sich selbständig machen.

Aber noch viel bessere Laune macht Julia Häusermann. Die kollektiv arbeitenden Menschen von Theater Hora, darunter die Regisseurin Nele Jahnke, bauen ihr den perfekten Rahmen, in dem sie ganz sie selbst sein darf, geistreich, gewitzt, umwerfend. Erst flirtet sie mit dem Publikum, macht mit ihm eine Art Figurenaufstellung der deutschen Fernsehschnulzenserie "Verbotene Liebe", woher der titelgebende Frank stammt. Aber bald verliert sie die Lust an zu strengen Vorgängen, begrüßt den Neon-Reifrock als "schöne Frau", schlüpft später auch hinein, in einem Brokatwestchen wieder ganz die Königin, die hier auch mal mit überlegener Ironie zur Ballerina wird.

Häusermann verkörpert die Kraft einer Emotionalität, die durch keine gesellschaftliche Norm eingeschränkt wird, und eines assoziativen Denkens, das sprachlos macht. Sie ist beneidenswert frei, frank und frei. Sie liebt, das sieht man im Video, Pferde und die Natur, sie liebt Schlager und Fernsehen und verkörpert tausend Auftritte in einem, während über ihr ein Sternenhimmel tanzt. "Ich war immer schon ein Optimist. Man schafft alles, wenn man will."

Ein gutes Motto für die neuen Kammerspiele unter Barbara Mundel.

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Quelle:
SZ vom 12.10.2020
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