Als letztes der drei Sprechtheater starten nun auch die Münchner Kammerspiele in die neue Saison. Mit dem einstündigen Abend "La mer sombre", inszeniert von Pınar Karabulut im kleinen Werkraum der Kammerspiele, einer Collage von Texten Claude Cahuns. Das wirkt nur wie ein Teaser aufs Kommende, die eigentliche Eröffnungspremiere folgt erst am 7. Oktober im großen Haus, schuld daran ist Corona, das Virus torpedierte die Vorproben im Sommer. Mithin sollte man von dem stolpernden Beginn nichts Programmatisches ableiten. Außer was das Inhaltliche betrifft.
Claude Cahun wurde 1894 in Nantes geboren, starb 1954 auf Jersey, wo sie nach der Besetzung durch die Nazis zusammen mit ihrer Stiefschwester und Lebensgefährtin Suzanne Malherbe im Widerstand aktiv war, verhaftet wurde, daran zerbrach. Sie war Schriftstellerin und Fotografin, überforderte selbst die Mitglieder des Surrealisten-Kreises in Paris, in dem sie sich bewegte. In Frankreich, England und auch den USA wird sie, gerade wegen ihres fotografischen Werks, als frühe Ikone eines geschlechterfluiden Ausdruckswillens rezipiert. "Neuter ist das einzige Geschlecht, das mir immer entspricht", schrieb Claude Cahun 1930 in ihrer autobiografischen Erzählung "Aveux non avenus". Die Surrealisten beschäftigte zwar auch der Gedanke, die Kategorien des Männlichen und des Weiblichen hinter sich zu lassen, aber Künstler wie Marcel Duchamp oder Man Ray gingen da eher scherzhaft vor, nicht mit der dunklen, eskapistischen Ernsthaftigkeit Cahuns.
Die Autorin gilt als frühe Ikone eines geschlechterfluiden Ausdruckswillens
Die Kammerspiele bleiben also stur auf Diskurs-Kurs, in "La mer sombre" - "Das dunkle Meer" - allerdings auf federleichte und auch rätselhafte Art. Magnus Chrapkowski übersetzte Cahuns Texte für den Abend das erste Mal ins Deutsche, Vorgriff auf eine Buchedition, die im Oktober mit "Heroinnen", Cahuns Überschreibungen von Frauengestalten aus Mythos und Literatur, beginnen wird. Aus Exzerpten daraus, aus "Aveux non avenus" ("Nichtige Geständnisse") und "Vues et Visions" ("Ansichten und Visionen") baute Pınar Karabulut zusammen mit den drei Spielenden ein textliches Kaleidoskop aus Fragen ohne Antworten, aus Haltungen, Empfindungen, aus vielen Gedanken dazu, was das denn sein könnte, dieses Ding genannt Identität. Die Texte stehen ihrer nonchalant sinnenfrohen Art zu inszenieren gut, der Abend lässt einen eintauchen in einen Schaum der Nacht, er bleibt aber flirrend heiter, auch weil Cahun, selbst sicherlich gebeutelt von der Suche nach sich selbst, in ihren Texten eine eigentümliche Heiterkeit, eine Entrüstung ohne jede Larmoyanz besitzt. "Wohin gehst du?", fragt Thomas Hauser. "Ich gehe heteronormative Ordnungsprinzipien mittels subversiver Techniken durchbrechen", antwortet Gro Swantje Kohlhof.
Karabulut lässt Hauser, Kohlhof und Christian Löber erst einmal unter den Zuschauern singen und sprechen, dann untersuchen sie doch noch die Bühne, ein buntes Gebilde aus Spiegelboden, rosa Muschel, blinkendem Plüschherz und Schaumbadewanne. Karabulut hat ein großes Faible für farbenfrohes, retrofuturistisches Design, die Spielenden tragen Plateau-Trekkingsandalen und geschlechterneutrale Perücken, die Musik von Daniel Murena wandert in elektronischen Gefilden herum. Dieser Abend zielt nicht auf Nachhaltigkeit, eher auf das, was die drei auf der Bühne dann auch tun, sich zu dritt in die Badewanne legen. Das kann man als Zuschauer leider nicht, aber man kann sich dem dunklen Meer hingeben wie einem fluiden Zustand, der eine Stunde währt und dann auch wieder vorbei ist.