Spielzeiteröffnung der Münchner Kammerspiele:"Auf das Leben und seine Schönheit!"

HONORARFREI BEI CREDITNENNUNG!

Aufstellung fürs Familienfoto: Die "Effingers" in den aufbruchsfrohen Jahren der Gründerzeit, vorne: André Jung als Onkel Waldemar.

(Foto: Armin Smailovic)

Endlich wieder Theater! Die Münchner Kammerspiele eröffnen mit Jan Bosses gelungener Adaption von Gabriele Tergits Roman "Effingers", der nur leider im Original 900 Seiten hat.

Von Christine Dössel

Das Theater beginnt mit zwanzig Minuten Verspätung, doch was macht das schon. Nach so langer Zwangsentwöhnung muss das alles ja erst mal wieder eingeübt werden: der Andrang von und der Umgang mit echten Menschen vor der Tür. Zwei lange Schlangen bilden sich vor den Münchner Kammerspielen, denn am Eingang herrscht covidauflagengemäß 3-G-Kontrolle. Das dauert. Aber so kann, wer schon drin sitzt, den froschgrünen Samtvorhang mit seinen schönen Blätterstängel-Applikationen im Jugendstil bewundern. Wie viel Verheißung strahlt er aus! Die dann auch kaum enttäuscht wird.

Schon das erste Bild ist ein gelungener Teaser: Zwölf Menschen in historischen Kostümen, aufgestellt zu einem Familienfoto. Eine zauberische Glöckchenmusik und die Projektion alter Sepia-Fotografien führen in ihre Welt hinein. Von der beginnen die Figuren dann zu erzählen, anfangs nur auf Stühlen sitzend, später szenischer, spielerischer, dialogischer. Aber immer im Duktus eines epischen Erzähltheaters. Gespielt wird ja auch kein klassisches Stück, sondern eine Roman-Adaption: Gabriele Tergits Familienepos "Effingers", das von der großbürgerlich-jüdischen Welt in Berlin um die Jahrhundertwende bis in die Nazizeit (und in einem auf der Bühne ausgesparten Epilog sogar bis ins Jahr 1948) führt. Die Autorin, eine bekannte Gerichtsreporterin der Weimarer Republik, beschreibt in ihrem 1951 erschienenen Wälzer auf fast 900 Seiten die Ehen, Aufstiege und Abstürze dreier deutsch-jüdischer Familien über vier Generationen hinweg, eingebettet in die Zeitläufte und Umbrüche. Ein Epochenroman.

Es springen Funken über, wie es das nur im Theater gibt

Dass dieser seit seiner Neuauflage 2019 begeistert wiederentdeckt oder besser: überhaupt erst richtig entdeckt und gewürdigt wird, bestätigt den guten Riecher der Intendantin Barbara Mundel für diesen Stoff. Angetrieben von dem Anliegen, der jüdischen Autorin Gabriele Tergit "eine Stimme zu geben", wollte sie die "Effingers" als neue Chefin der Kammerspiele schon im Dezember 2020 herausbringen. Die Pandemie hat nicht nur dieses Vorhaben, sondern fast den gesamten Start von Mundels Intendanz vermasselt. Für den neuen Anlauf ist die Inszenierung der "Effingers" allein schon aufgrund ihrer hohen Personenanzahl und ihrer Dauer von fast vier Stunden genau das Richtige: endlich wieder Theater im Großformat, endlich eine Gelegenheit, das neue Ensemble kennenzulernen. Es sind auch gute alte Bekannte aus früheren Kammerspiele-Zeiten darunter wie Katharina Marie Schubert und André Jung. Willkommen zurück!

Beschwingte Stimmung also im Parkett. Das Schaupielhaus ist zum ersten Mal seit Corona wieder voll besetzt, zwar mit Maskenmenschen, aber eng an eng. Diese Nähe fühlt sich wahnsinnig gut an und steigert im Publikum spürbar die Neigung, sich anstecken zu lassen von jedwedem komischen Ansatz auf der Bühne, aber eben auch von den Reaktionen der anderen um einen herum, dieser so lange vermissten Chemie. Die Schauspieler haben daher leichtes Spiel. Aber sie machen ihre Sache auch wirklich prima, manche hervorragend, und künden von einem guten Ensemblegeist. Es springen Funken über, wie es das nur im Theater gibt.

Mehrere Generationen, die Zeit von 1882 bis 1948, da braucht man ab und zu Stammbaumskizzen

Regie geführt hat Jan Bosse, auch er ein Kammerspiele-Rückkehrer, 1998 gab er hier unter Dieter Dorn sein Debüt. Seither hat er eine schöne Karriere gemacht als Regisseur eines verspielten, textbasierten, menschennahen Erzähltheaters - alles Qualitäten, die er auch bei den "Effingers" einbringt, wenn auch nicht in üppiger szenischer Fülle, sondern auf weitgehend karger Bühne, schlicht, reduziert, ganz auf die Figuren fokussiert. An Bühnenbild gibt es wenig mehr als eine dreigeteilte Glaswand, die Stéphane Laimé zentral aufgestellt hat, als Projektionsfläche für historische - und auf historisch getrimmte - Fotos und einige Live-Videobilder. Auch der Familienstammbaum und Jahreszahlen werden von den Schauspielern daraufgemalt, damit man den Überblick behält. Ist ja doch eine große Zeitspanne und sehr weitläufige Familienchronik, die hier abgehandelt wird, beginnend nicht im fiktiven fränkischen Ort Kragsheim, wie im Roman, sondern gleich 1882 im fortschrittsfreudigen Berlin, wo gerade die erste Gasanstalt etabliert wird und die Fabrikschlote rauchen.

Der junge Paul Effinger aus der Provinz will teilhaben am Aufschwung der Gründerzeit, erst als Schraubenfabrikant, dann als Pionier der Autoindustrie. Dafür tut sich der strebsame Steifling (Christian Löber) mit seinem sinnenfreudigen Bruder Karl (Bekim Latifi) zusammen, der schon mal einen publikumswirksamen Ausdruckstanz mit einem Stuhl vollführt. Die beiden Brüder heiraten in die mondäne Bankiersfamilie Oppner & Goldschmidt ein. Karl ehelicht die adrette, luxusaffine Annette (Anna Gesa Raija Lappe), Paul wird buchstäblich geangelt von der zupackend pfundigen Klara (Julia Gräfner). Sie gelangen damit in die besten Kreise Berlins, an die reich gedeckten Tafeln in den Villen im Tiergarten und am Kurfürstendamm. Was gespeist wird, spielt in Tergits detailverliebtem Roman eine wichtige Rolle, und zieht sich - "Mahlzeit!" - auch in der Bühnenfassung als Speise(fahr)plan durch den Abend, von der getrüffelten Poularde über den Spargel im Winter bis hin zur fleischlosen Bouillon in den Weltkriegstagen zwischen 1914 und 1918.

HONORARFREI BEI CREDITNENNUNG!

Die Frauenbewegung kommt nicht zu kurz in Jan Bosses Inszenierung. Katharina Marie Schubert ist als Lotte Effinger eine begeisterte Anhängerin.

(Foto: Armin Smailovic)

Die jüdische Familie, die Gabriele Tergit mit vielen autobiografischen Einsprengseln beschreibt, war zu jener Zeit selbstverständlicher Teil der Bürgerschaft, patriotisch, preußisch stolz. Gravitätisches Oberhaupt ist Emmanuel Oppner, von Edmund Telgenkämper mit Kaiserbart und herrlich patriarchaler Milde gespielt. Wenn er gegen den Verbrennungsmotor wettert - "die Zukunft liegt in der Elektrizität!" -, sind ihm die Lacher der Heutigen gewiss. Seine Frau Selma (Johanna Eiworth) hat in ihrem aufgebauschten Ballonärmelkleid ein weibliches Selbstverständnis, das sie locker an ihre Töchter weitergibt. Nur Sofie, die jüngste (Katharina Bach), ist zerbrechlicher und scheitert in einem pathetisch-gefühligen Nebenstrang an der Liebe. Und dann haben die Oppners auch noch einen Sohn, der aus der Reihe schlägt: Theodor, "leider ein Anarchist" (André Benndorff mit langen Haaren und unruhigem Geist). Zur geistigen Ausnüchterung wird er nach England geschickt, wo er vor allem eines lernt: das Beste aus einer Sache zu machen, "to make the best of it".

Das machen an diesem Abend auch die Schauspieler - aus dem szenischen Nichts heraus. Die Kostüme von Kathrin Plath spielen dabei eine wesentliche Rolle, sie zitieren und definieren den Wandel der Zeit (von Gehrock, Schleifen und Rüschen hin zu Anzügen und Suffragetten-Look), markieren sofort jede Figur, manchmal auch an der Grenze zur Karikatur. Denn echte, ambivalente Charaktere entstehen im allzu planen Schnellablauf dieser Inszenierung nicht. Es ist ein skizzenhaftes Zeit- und Typenpanorama, teils ein schräges Panoptikum und Kabarett. Die Fassung von Jan Bosse und Viola Hasselberg hält sich an die Struktur und Chronologie des Romans, streicht aber neben vielen Details zwangsläufig auch Figuren und Episoden. Man merkt dem linear erzählten Abend zunehmend seine Epik und chronistenpflichtschuldige Abhandlung von Kapiteln an - man muss ja durchkommen, und die Frauenbewegung darf nicht zu kurz kommen -, es gibt keine dramaturgische Zuspitzung, außer der des Weltgeschehens, keinen dramatischen Konflikt. Und während es immer heißt, "Das war das Neue!" oder "Das ist die neue Zeit!", lernt man als Zuschauer nicht wirklich etwas Neues.

Aber man wird gut unterhalten. Es gibt lustige Szenen und hinreißende Kabinettstückchen wie etwa den hüpfpantomimischen Ausritt der Familie im Berliner Tiergarten. Oder eine Automobilfahrt im Blue-Screen-Verfahren. Auch berührende Szenen wie die zwischen André Jung (als kluger, menschenfreundlicher Jurist Waldemar) und Lucy Wilke im Rollstuhl, die als Susanna wunderschön singt. Oder Julia Gräfners Schilderung der Spanischen Grippe mit deren Millionen Opfer. Und es gibt Lieblingsfiguren wie Katharina Marie Schuberts grandios komische Tante Eugenie im hinternbetonenden Cul de Paris. Oder Zeynep Bozbays emanzipierte Marianne, die in der vielleicht stärksten Szene der Inszenierung nach 15 Jahren den Mann wiedertrifft, mit dem sie einst die Welt sozialistisch verbessern wollte, Martin Schröder, nun ein angehender Nationalsozialist. Die kalte, arrogante Selbstgewissheit, mit der Edmund Telgenkämper diesen Deutschen der neuen Zeit spielt, lässt einem das Blut in den Adern gefrieren. Bosse muss danach gar keine SS-Schergen mehr auffahren. Es ist bekannt, was jetzt die Stunde schlägt. Das letzte Wort gehört hier André Jung, dem Juden Waldemar. Er sagt nichts von der Hölle, die bevorsteht. Er sagt: "Auf das Leben und seine Schönheit!" Begeisterter Applaus.

Zur SZ-Startseite
Pressebilder: AUFSTIEG UND FALL EINES VORHANGS, Text und Regie René Pollesch. 

Volksbühne

SZ PlusVolksbühne Berlin
:Erst mal abhängen

Endlich geht es an der Berliner Volksbühne wieder los - mit René Pollesch als neuem Chef. Der Auftakt lässt allerdings viel Luft nach oben.

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: