Theater:Geerbte Traumata

Theater: Bringen ihre eigenen Geschichten ein: Nicola Fritzen und Lucy Wilke in "Hungry Ghosts".

Bringen ihre eigenen Geschichten ein: Nicola Fritzen und Lucy Wilke in "Hungry Ghosts".

(Foto: Maurice Korbel)

Slapstick und Neurologie: Anna Smolar inszeniert "Hungry Ghosts" an den Münchner Kammerspielen.

Von Egbert Tholl

Diese Kombination muss man sich erst einmal ausdenken: Die polnisch-französische Regisseurin Anna Smolar verknüpft an den Münchner Kammerspielen Louis de Funès mit Neurologie, also Slapstick mit Naturwissenschaft, Irrsinn mit Härte. "Hungry Ghosts" heißt der Abend, den Titel fand Smolar in einem Buch des Psychologen Gabor Mate, der mit den "hungrigen Geistern" Menschen mit einem großen emotionalen Bedürfnis meint. Also landet man erst einmal dort, wo diese Bedürfnisse besonders ausgelebt werden, auf dem Theater. Bei den Proben zu einer Eifersuchtskomödie im Kostüm des 19. Jahrhunderts.

Im Theater der Herstellung von Theater und dessen Scheitern zuzusehen, ist immer lustig (siehe etwa "Der nackte Wahnsinn"), weil die Schauspielerinnen und Schauspieler hierbei die Ventile voll aufdrehen können. Auf der Bühne stehen vier häusliche Gebilde, reine Kulisse, sehr komödientauglich, Tür auf, Tür zu. Der herrliche Nicola Fritzen bringt seinem Kollegen Sebastian Brandes bei, wie man überzeugend gegen Wände läuft, was nicht so recht klappen mag. Johanna Eiworth und Katharina Marie Schubert spielen Mutter und Tochter, die hier Mutter und Tochter spielen, das Private und ihre Figuren durcheinanderbringen, Jelena Kuljić versucht als Maskenbildnerin Ordnung zu wahren, und André Benndorff verzweifelt als Regisseur dieser Unternehmung zusehends. Vor allem weil Charlotte, so heißt Schuberts Figur, auf einmal nicht mehr funktioniert, katatonische Anfälle hat und somnambul durch die Proben schleicht.

Auch im Nō-Theater werden Figuren von Geistern heimgesucht. Hier aber geht es um Epigenetik

Da verschwindet die durchgedrehte Farce wie peu à peu die Kulisse, und der Abend mäandert auf das Thema zu, für das sich Smolar einen Text von Mira Marcinów erbeten hat, um den herum die Schauspieler eigene Geschichten erzählen: Epigenetik. Der Begriff meint die wissenschaftliche Erkenntnis, dass Traumata sich im Erbgut ablagern können und so über Generationen weitervererbt werden. Das Trauma, das Charlotte befällt und sie am Spielen hindert, ist eigentlich das ihrer Mutter. Deren Schwester ertrank, als sie Kinder waren. Die tote Tante sucht nun Charlotte heim, taucht, gespielt von Johanna Eiworth, auf der Bühne auf, Eiworth und Schubert werden zu einem siamesischen Doppelwesen, fabelhaft gut gespielt.

Dass Figuren auf der Bühne von Geistern heimgesucht werden, ist ein Topos des japanischen Nō-Theaters. Aber anders als dort oder etwa bei Shakespeare (der Geist von Hamlets Vater) geht es Smolar nicht um Mythos oder Schuld, es geht um einen rein neurologischen Mechanismus, den man anerkennen muss, um damit umgehen zu können. Marcinóws Erzählung, die hier mit hoher Intensität von Fritzen und Kuljić auf Serbisch (mit Übertiteln) erzählt wird, handelt vom Krieg im ehemaligen Jugoslawien. Und meint alle derzeitigen Kriege mit.

Jede Figur hat hier ihre Geschichte, nicht alle sind interessant, die Theaterfarce zerbröselt, kehrt aber zurück in Gestalt von Lucy Wilke, die als Theaterautorin mit größter Grandezza dem Regisseur erklärt, dass er nichts kapiert. Es ist ein grundsätzlich von musikalisch Hochbegabten gestalteter Abend, an dem schließlich alle ihre Geister loswerden und tanzen. Am Ende wird die leere Bühne erhellt wie von einem Nordlicht, und jede neurologische Erkenntnis löst sich in Wohlgefallen auf.

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