Münchner Kammerspiele:Ändere, was du liebst

Münchner Kammerspiele: Will den Zirkus verändern, weil sie ihn liebt: Leni Peickert (Julia Gräfner).

Will den Zirkus verändern, weil sie ihn liebt: Leni Peickert (Julia Gräfner).

(Foto: Maurice Korbel)

Nach langen Monaten ohne Zuschauer befragt das Theater sich selbst: Für wen machen wir das eigentlich? An den Münchner Kammerspielen repariert Jan-Christoph Gockel mit der Alexander-Kluge-Revue "Wer immer hofft, stirbt singend" die Kraft der Bühne.

Von Christiane Lutz

Es war Melancholie, die den Zirkusartisten Manfred Peickert dazu brachte, die Hand seines Kollegen am Trapez doch nicht zu ergreifen. Die zermürbende Einsicht, dass man das System vielleicht doch nicht verändern kann, auch nicht von innen. Er stürzt ab. Seine Tochter Leni tritt sein Erbe an und will seinen Wunsch erfüllen: mehr Elefanten in der Zirkuskuppel.

Das ist die Handlung von Alexander Kluges Film "Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos" von 1968, in dem er eine Zirkus-Selbstbefragungs-Geschichte erzählt. Wie weitermachen nach zwei Weltkriegen? Was wollen die Zuschauer? Was kann man reparieren, was wirft man weg? Leni Peickert, damals grandios gespielt von Hannelore Hoger, kommt am Ende zu der schnöden Einsicht: "Nur als Kapitalist ändert man, was ist", sie wird zur Geschäftsfrau.

Tja. Das Theater steckt heute genauso in der Krise wie der Zirkus und im Grunde die ganze Welt. Nicht erst, seit das elende Virus über uns kam, aber doch sehr offensichtlich seitdem. Die Theater stolpern durch eine coronagebeutelten Saison, viele Inszenierungen wirken seltsam unaktuell. Sind sie ja meist auch, weil das Theater kaum schnell genug reagieren kann auf den Irrsinn der Welt. Obwohl die Häuser lange Zeit ganz geschlossen waren, brach trotz Androhung diverser Theaterleute doch nicht die Barbarei aus, was diese am meisten verblüffte. Die dringend notwendige Selbstbefragung aber - für wen machen wir das? Was wollen wir? - wurde an vielen Häusern mit ausgiebiger Nabelschau verwechselt.

Krise? Erst mal Popcorn im Publikum verteilen

Der Regisseur Jan-Christoph Gockel stemmt sich dieser unerfreulichen Situation an den Münchner Kammerspielen jetzt in der Uraufführung "Wer immer hofft, stirbt singend" mit trotzigem Optimismus entgegen. Untertitel: "Reparatur einer Revue, nach Geschichten und Motiven von Alexander Kluge." Wenn man richtig zählt, ist dies Gockels dritte große Inszenierung seit Herbst, nach "Öl" am Schauspiel Frankfurt und "Eure Paläste sind leer" an den Münchner Kammerspielen, und es gelingt ihm wieder, der Wirklichkeit ein paar schillernde Theatermomente abzuringen.

Münchner Kammerspiele: Wenn Feuerspucker das Publikum nicht überzeugen, wer dann?

Wenn Feuerspucker das Publikum nicht überzeugen, wer dann?

(Foto: Maurice Korbel)

Seine Mittel sind stets "ein bisschen zu viel von allem": Requisiten, diesmal ein alter Zirkuswagen (Bühne: Julia Kurzweg), Film-Einspieler, Backstage-Kamera, Musik. Puppenspieler Michael Pietsch hat wieder seine rührenden Figuren gebaut, diesmal auch einen Elefanten und ein melancholisches Lama. Gockel springt sogar selbst auf die Bühne, als Moderator und Publikums-Einheizer. Sein Smoking stamme aus der berühmten "Othello"-Inszenierung von Luk Perceval, behauptet er, der Vorhang aus Dieter Dorns "Faust". Die guten alten Theaterzeiten, die mögen vorbei sein, aber deshalb kann man sich doch ihrer besten Momente bedienen, sie recyclen, ganz im Sinne des Untertitels, "Reparatur einer Revue". Mitspielende Regisseure sind eigentlich nicht mehr in Mode, heute halten die sich eher bescheiden bis ironisch im Hintergrund. Gockel aber scheint es verdammt ernst zu meinen mit seiner Mission, das Theater zu retten. Krise? Erst mal Popcorn im Publikum verteilen.

Die Geschichte der Zirkusreformerin Leni (Julia Gräfner) spielt das Ensemble rasant und irre komisch, im Gegensatz zur eher künstlerisch-spröden Filmvorlage von Alexander Kluge. Überhaupt lässt sich der Abend weniger als Hommage an Kluge deuten, denn als Metapher für die Theatermacher in der Krise. Leni sagt: "Ich will den Zirkus verändern, weil ich ihn liebe." Ihr Zirkus soll weg von der Nummernrevue zu mehr Natürlichkeit. Weil auch die Illusion nicht mehr der einzige Zweck des Zirkus ist - "Show raus, Sinn rein" - muss man Stuntman Johnny Texas (Sebastian Brandes), nachdem er weggezaubert wurde, traurig im Zirkuswagen sitzen sehen; Teil der neuen "Transparenz-Offensive". Die eigene Ratlosigkeit ist zudem nichts mehr, wofür man sich schämen muss: "Wir sind auch nicht schlauer als die Menschen draußen", ruft die tätowierte Crocodile Diana (Johanna Eiworth).

Bleibt die Frage, ob das Theater den Willen hat, sich aus sich selbst heraus zu verändern

Transparenz-Offensive, spürende Schauspieler, die Offenlegung der eigenen Ratlosigkeit, die Frage, ob es mehr Ernst oder mehr Unterhaltung geben soll, das kommt dem Theaterzuschauer doch sehr bekannt vor. Und Gockel zieht diese Selbstbefragung genüsslich durch. Nebenbei startet er auch noch eine Inklusions-Offensive, in seinem Ensemble sind vier Spieler mit Down-Syndrom. Das Publikum gackert gelöst, wie wohltuend, Selbstironie statt Ironie auf der Bühne zu sehen.

Dem überbordenden Schaffen Alexander Kluges, der wirklich Zirkus-Fan ist und im Februar 90 wurde, kann so ein Abend natürlich gar nicht gerecht werden, muss er auch nicht. Gockel knüpft aber an dessen Neugier an, seine Methode der kleinen Geschichten und Betrachtungen. Ein paar seiner Motive greift er auf, den unerschütterlichen Glaube an das menschliche Urvertrauen etwa, und die Utopie, die "immer besser" wird, "je länger wir auf sie warten", und führt sie weiter mit seinem eigenen Zweck-Optimismus, ohne den vermutlich gar nichts geht.

Aber gerade, weil Leni den Zirkus liebt, sagt Kluge, wird sie ihn nicht verändern können, "weil Liebe ein konservativer Trieb ist". So bleibt die Frage, ob das Theater die Kraft und den Willen hat, sich aus sich selbst heraus zu verändern. Man kann Gockel vorwerfen, dass er die Frage in letzter Konsequenz doch nicht beantworten will, sondern sie lieber mit Lichterketten umwickelt und in lautem "Aaaaah" und "Ooooooh" untergehen lässt, zu dem er das Publikum auffordert. Vielleicht aber sind diese Überwältigungsmanöver, sind Zauberei und Zuckerwatte dann doch die besten Möglichkeiten, die das Theater noch hat. Frei nach Kluge: "In Gefahr und höchster Not ist der Mittelweg der Tod." Also mit Karacho rein in die Magie-Maschine, Mut zum Irrsinn, zu großen Ideen, zu mehr Elefanten in der Zirkuskuppel.

Umso erschütternder trifft die finale Szene mit einer genialen Johanna Kappauf, die als "Sonia Saizewa" auf dem Hochseil balanciert und Walter Benjamins "Engel der Geschichte" zitiert. Jene Meditation über ein Bild von Paul Klee, in der Benjamin einen Engel beschreibt, der sein Gesicht nicht von den Gräueln der Vergangenheit abwenden kann und wie von einem Sturm nach vorn in die Zukunft getrieben wird. "Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm", heißt es am Ende. Damit bricht plötzlich doch die Gegenwart herein, der Krieg, die Krise der Menschheit, die weit über die des Theaters hinaus reicht.

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