Münchner Dokfest:Die Nerven liegen blank

Burn-out im Krankenhaus, der Zwang zur Selbstoptimierung und Algorithmen, die Verbrechen vorhersagen: Fünf Filmtipps fürs Festival.

Von David Steinitz, Sonja Zekri, Martina Knoben, Juliane Liebert und Alex Rühle

Münchner Dokfest: Götter in Weiß? Von wegen. Die Ärzte, die Jérôme le Maire in einem Pariser Krankenhaus in "Burning-Out" beobachtet hat, wirken wie Fließbandarbeiter.

Götter in Weiß? Von wegen. Die Ärzte, die Jérôme le Maire in einem Pariser Krankenhaus in "Burning-Out" beobachtet hat, wirken wie Fließbandarbeiter.

(Foto: Festival)

Eine Gebrauchsanleitung fürs Leben - das wär's! Tatsächlich scheint die Welt gerade besonders unübersichtlich und unberechenbar zu sein. Da kann der geduldige Blick des Dokumentarfilms Orientierungshilfe und Imprägnierung sein, vielleicht ja auch gegen Fake News. Das 32. Dok.fest München zeigt in diesem Jahr 157 Filme aus 45 Ländern, das Gastland ist Mexiko. Neben dem Internationalen Programm und der Deutschen Reihe gibt es diverse Nebenreihen, darunter die Retrospektive, die dem Dokumentarfilmer und Journalisten Georg Stefan Troller gewidmet ist. Hier einige Empfehlungen für das an diesem Donnerstag beginnende Festival.

Burning-Out,

Jérôme le Maire

Es geht um Leben und Tod, und das jeden Tag, im Schichtbetrieb. Eine Intensivstation in einem Pariser Krankenhaus. Dass die Station zufällig ausgewählt wurde, wird schon in der Eingangssequenz klar, in der eine Kamera aus Weltraumferne auf Paris zufällt und dann eben im Hôpital Saint-Louis landet. Die Ärzte und Schwestern kämpfen mit denselben Schwierigkeiten wie ihre Kollegen in Tausenden Kliniken: weniger Geld, weniger Zeit, aber bitte dieselbe Leistung bringen. Permanente Umstrukturierungen, Kürzungen, Zusatzaufgaben - irgendwann liegen die Nerven der Ärzte und Schwestern so blank wie das Gewebe, das sie in immer schnellerem Takt operieren sollen. Patienten tauchen nur als zu flickendes Material auf. Aber auch die Männer, die früher mal Götter in Weiß hießen, sitzen hier nur aschfahl, alt und übermüdet in Wochentreffen und Mediationssitzungen, in denen ihnen immer neue Maßnahmen verkündet werden.

Trailer

Zwei Jahre hat der belgische Filmemacher Jérôme le Maire den Arbeitsalltag auf der Intensivstation begleitet, sein Dokumentarfilm ist ein beeindruckender Beleg dafür, dass die "unsichtbare Hand des Marktes" gar nichts reguliert, sondern wertvolle Strukturen wie unser europäisches Gesundheitswesen von innen heraus zerstört. Man kann sich nur innig wünschen, gesund zu bleiben.

Dancer,

Steve Cantor

In der schönsten Szene zieht Sergei Polunin sich aus und tobt nackt durch den Schnee. Er hat als Erster Solist beim Royal Ballet gekündigt, eine Weltkarriere hingeschmissen, und jetzt springt er quiekend eine leere Londoner Straße entlang. Alles lässt er hinter sich, die Jahre des Drills in der Ukraine, später in London, wo Lehrer und Mitschüler sein Ausnahmetalent bestaunten und er Abend für Abend in Aufführungen verschlissen wurde, die Scheidung seiner Eltern. Vor ihm liegen: Drogen, schlechte Presse, großmäulige Tweets, ein demütigender Neuanfang in Russland. Inzwischen wird Sergei Polunin als Gastsolist in München bejubelt, aber als der Regisseur Steven Cantor "Dancer" drehte, war das noch Schnee von übermorgen. Cantor hat Aufnahmen aus Polunins Kindheit gefunden, Eltern, Großeltern, Freunde gesprochen und vor allem Polunin selbst. Und so ist "Dancer" nicht nur ein schonungsloser Ballettfilm geworden, der den Abgrund zwischen Schönheit und Leiden, zwischen dem Zauber der Bewegungen und deformierten Füßen, Aufputschmitteln und totaler Erschöpfung vermisst. Vor allem ist der Film das Porträt eines begnadeten Künstlers geworden, der den Erwartungen der anderen nicht anders zu entfliehen weiß als dadurch, dass er seine Kunst aufgibt.

Leben - Gebrauchsanleitung,

Jörg Adolph und Ralph Bücheler

Von der Geburtsvorbereitung bis zum Sargbau gibt es für alle Daseinsphasen Kurse, Coachings, Tests und Therapien. Jörg Adolph und Ralph Bücheler haben viele solcher Beratungssituationen dokumentiert und sie zu einer fiktiven Biografie montiert, die aus lauter Inszenierungen besteht. Das Leben als Simulation und Rollenspiel: Auf die Geburt einer Plastikpuppe folgt der psychologische Test, der Benimmkurs für Kinder, Verkehrserziehung in der Schule, die Striptease-Lektion und eine Militärübung. Durch die Krisen der Lebensmitte helfen Burn-out-Klinik, Familientherapie und Yoga-Retreat, bis ein Rollator-Tanzkurs Schwung ins Alter bringt, selbst der Abschied vom Leben wird gelehrt. Nach dem Vorbild von Harun Farockis Essayfilm "Leben - BRD" entsteht das Bild einer tief verunsicherten Gesellschaft, deren Mitglieder alle Lebensäußerungen erst einmal üben wollen. Das wirkt oft bizarr und komisch. Wenn sich Menschen allerdings rundum selbst abrichten, sich immerzu selbst optimieren, schließlich ein Roboter ihre normierten Handlungen ausführt, kann einem auch mulmig werden. "Manchmal scheint es", sagt einer der Trainer, "als wären wir nur auf der Welt, um einen guten Eindruck zu machen."

Pre-Crime,

Monika Hielscher, Matthias Heeder

Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass in einer bestimmten Straße morgen ein Raubüberfall stattfindet? "Pre-Crime" klingt wie eine Doku-Version von "Minority Report": Es geht um Software, die Verbrechen vorhersagt, bevor sie passieren. Um Polizei, die am Tatort ist, bevor der Täter auch nur ankommt. Um Listen der Mörder von morgen. Was nach Hollywood-Thriller klingt, wird tatsächlich zunehmend implementiert - in Chicago beispielsweise, wo die Polizei Listen potenzieller Täter oder Opfer hat, berechnet von Algorithmen. Doch woher kommen die Daten für diese Algorithmen? Wer entscheidet, wer von ihnen beschützt wird und wer nicht? Solche Fragen sind es, denen sich Matthias Heeder und Monika Hielscher in ihrem Film widmen. Dabei wird nicht nur die tatsächliche Anwendung solcher Programme durch die Polizei, sondern auch die gesellschaftliche Bedeutung dieser Entwicklungen betrachtet. Einziger Kritikpunkt: Man merkt der Aufmachung der Doku an, dass ihre Macher eigentlich auch ganz gern einen Thriller gedreht hätten, was das Thema nicht nötig gehabt hätte.

This is Atomic Love,

Heike Schuffenhauer, Marc Seibold

Historiker sind vermutlich anderer Meinung, aber auch betrunkene Zeitzeugen können von großem dokumentarischen Wert sein. Der Film "This is Atomic Love" von Heike Schuffenhauer und Marc Seibold erzählt die Geschichte des Münchner Indie-Clubs "The Atomic Café", der knapp zwei Jahrzehnte die Clubkultur und die Musiklandschaft in Deutschland prägte und 2015 ein besonders tristes Opfer der Gentrifizierung geworden ist. Dort wo man einst am strengen Türsteher vorbei die große Silbertür ins Musik-Eldorado passieren konnte, ist heute ein Laden für Designerklamotten. Das Regieduo rekonstruiert die Geschichte des Ladens mithilfe einer Schar sympathischer Nachtschattengewächse, die Anekdoten über ihre Atomic-Abenteuer erzählen und damit auch ein Stück Musikgeschichte. Darunter sind die beiden Gründer und Stammgäste, denen man ihr langjähriges Stammgastdasein auch deutlich ansieht. Außerdem erzählen DJs und Promi-Fans wie Mehmet Scholl von ihrer Atomic-Liebe und Musiker wie die Sportfreunde Stiller, Kaiser Chiefs und Judith Holofernes berichten, warum ausgerechnet dieser Club mit seinem Sixties-Look und dem Glitzervorhang auf der Bühne so wichtig für sie war. Ein melancholisches Erinnerungsbilderbuch und eine Ode ans Nachtleben.

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