Am Ende des ersten Tags der Münchner Musiktheaterbiennale, dem weltweit wichtigsten Festival für zeitgenössisches Musiktheater, kann man nahtlos anknüpfen an die Diskussionen, die vor zwei Jahren die Wahrnehmung bestimmten. Ist das Theater? Ist das überhaupt noch Musik? Ja, ist es, auch wenn niemand singt, es keinen Text gibt, sich keiner bewegt und der Klang eine elektronisch knisternde Wolke ist. Clara Iannotta, frisch ausgerüstet mit dem Siemens-Förderpreis fürs Komponieren, hat eine seltsame und zauberhaft schöne Klanginstallation für die White Box erdacht, einem Ausstellungsraum im Werksviertel, dort, wo das Konzerthaus München entstehen wird.
Biennale-Gründer Hans Werner Henze und sein Nachfolger Peter Ruzicka suchten viele Jahre lang nach einer Erweiterung des Werkkanons im Musiktheater, brachten einige Stücke heraus, die Eingang fanden ins Repertoire der Opernhäuser, aber auch Kopfgeburten, unter deren intellektueller Last man ächzte. Vor zwei Jahren übernahmen Daniel Ott und Manos Tsangaris die Leitung des Festivals. Die Aufführung wurde wichtiger als das Material, Diversität war erklärtes Ziel: Alle Formen sollten Eingang finden.
Die Haltung von Ott und Tsangaris kündigt nicht die Autonomie eines schriftlich fixierten Werks auf, ein solches darf es schon geben, wie übrigens die Eröffnungspremiere dieses Jahr zeigte - "Wir aus Glas" von Yasutaki Inamori, mehr dazu gleich. Die beiden glauben schlicht nicht mehr daran, dass man sich alles, was heute Musiktheater sein kann, ledergebunden ins Regal stellen kann.
Im Fall von Clara Iannotta wäre es ohnehin eher eine elektronische Schalttafel. Vier Damen, lange kaum erkennbar im trüben Dunkel, durch das einzelne Lichtblitze huschen, stehen starr in einem Stahlstrebenwirrwarr von Anna Kubelik, Klänge knistern, zirpen, knarren, mal klingt es wie die Leerlaufrille einer Schallplatte, mal wie das industrielle Intro eines avancierten Popsongs. Irgendwie scheinen die Performerinnen in einer Beziehung zu den elektronisch hergestellten Klängen zu stehen, das Gestänge reagiert auf kleinste Bewegungen, aufs Atmen der Performerinnen. Die gehören zu den "Neuen Vocalsolisten" aus Stuttgart, in diesem Jahr bei einigen Biennale-Produktionen vertreten und Bindeglied zum teils koproduzierenden Eclat Festival.
Ist nun ein eher statischer Vorgang, in dem ebenso harsche wie irisierend schöne Klänge erzeugt werden, die weder eine besondere Varianz aufweisen noch ihren konkreten Ursprung preisgeben, Musiktheater? Ja. Das Narrativ von "Skull ark, upturned with no mast" ("Schädelarche, gekentert ohne Mast") ist eine Metapher. Iannotta war fasziniert von Tiefseetierchen, die in einer völlig hermetischen Welt leben, ohne diese verlassen zu können. Wie, für 45 Minuten, die vier Performerinnen.
Musik aus dem Leben von Tiefseetierchen, aus einer völlig hermetischen Welt
Bevor man Iannottas elektrische Welt besucht, führt einen eine lustige, fünfköpfige Truppe aus Hongkong mit Hilfe ortsansässiger Performer durch die Maxvorstadt. "Bubble <3" ist die mehrfache Wiederholung eines Spaziergangs an (musikalischen) Miniaturereignissen vorbei, die allesamt zu läppisch gestaltet sind, um die Grenze zwischen normalem und inszeniertem Alltag aufzuheben. Manos Tsangaris macht selbst als Komponist manchmal ähnliche Sachen - doch wenn der Chef selber kocht, schmeckt es viel besser.
"Bubble <3" endet in einem engen Raum, in dem die Performer in einer transparenten Plastikblase leben, Iannotta sperrt ihre Darstellerinnen in Stahl ein. Das Thema der diesjährigen Biennale lautet Privatsache, was die Künstler offenbar an hermetische Situationen denken lässt. Das gilt auch für Yasutaki Inamori und seine Librettistin Gerhild Steinbuch. "Wir aus Glas", die Eröffnungspremiere, ist ein extrem präzis notiertes Werk - in der Partitur stehen kleinste Regieanweisungen, die künftige Inszenierungen besser nicht beachten. Das Stück hat thematisch und musikalisch enormes Potenzial, aber es braucht mehr Mut als David Hermanns Inszenierung, die freilich mit einem genialischen Bühnenbild von Jo Schramm prunkt. In der Muffathalle sitzt sich das Publikum gegenüber, dazwischen die offen angedeuteten Räume einer Wohnung, an denen die Zuschauertribünen entlangfahren. Dabei wird man zwar ein bisschen seekrank, was einen die verspielte, perkussive, aber auch verträumte und völlig analoge Musik unmittelbar empfinden lässt. Die sechs Musiker vom Opera Lab Berlin hausen hier so selbstverständlich wie die zwei Sängerpaare, man geht schlafen, duschen, aufs Klo, kocht, feiert beim Dinner die totale Selbstzufriedenheit. Steinbuchs Sprache raubt den Paaren die letzte Fähigkeit, an etwas anderes als spießigstes Miniaturglück zu denken, Inamori baut fürs Dinner die Einzelerscheinungen seiner Musik zu einem neobarocken Telemannderivat zusammen, also Tafelmusik. Alles ist völlig klar, vielleicht sogar manchmal banal, Arien gibt es auch und einen Schauspieler. Keiner will ihn hören, schließlich gibt er auf und alles geht weiter wie bisher. Aber das eben ginge viel schärfer, härter, böser.