Münchner Biennale:Ausruf der Räterepublik

Münchner Biennale, die beiden Leiter

Münchner Biennale, die beiden Leiter Daniel Ott und Manos Tsangaris Pressefoto

(Foto: Armin Smailovic; Smailovic)

Die Biennale für Neues Musiktheater eröffnet. Ihre Leiter Daniel Ott und Manos Tsangaris verlagern sie erst einmal ins Netz. Ein Gespräch.

Interview von Reinhard J. Brembeck

Die 1988 von Komponist Hans Werner Henze gegründete Münchener Biennale für Neues Musiktheater ist ein weltweit einmaliges Festival, weil es ausschließlich Uraufführungen spielt. Im Gegensatz zu anderen Festivals findet die Biennale statt, sie wird Freitagabend eröffnet. Doch sie findet anders statt, als von ihren Leitern, den Komponisten Daniel Ott und Manos Tsangaris, geplant. Neun komponierten Stücke werden nicht in den nächsten beiden Wochen gezeigt, sondern im Verlauf der nächsten beiden Jahre. Freitag um 18 Uhr findet die Eröffnung samt der ersten Produktion "Journal Rappé" im Netz statt, das kann auf der Website des Festivals verfolgt werden. Ott und Tsangaris haben die Biennale vor vier Jahren übernommen und ästhetisch radikal verändert, indem sie sich vom traditionellen Opernkonzept ihrer Vorgänger Hans Werner Henze und Peter Ruzicka verabschiedeten und auf Experiment, Gleichberechtigung und politische Einmischung setzten.

SZ: In dem Essay "Die Pest und das Theater" fordert der Theaterrevolutionär Antonin Artaud, dass das Theater wie die Pest wirken soll. Alle Sicherheiten verschwinden, und auch der Theatermensch muss alles anders machen. Derzeit ist der Theaterbetrieb ausradiert, doch plötzlich hört man von den Intendanten zum Neubeginn Sachen, die sie früher freiwillig nie gemacht hätten, die aber etwa die Biennale in den letzten vier Jahren angedacht hat. Ist das für Sie eine Genugtuung?

Daniel Ott: Das ist schön, das von Ihnen so zu hören. Ich habe eher gedacht, im Moment sitzen wir alle im selben Boot: die freien Gruppen, mit denen Manos und ich oft arbeiten, die Biennale und auch die Staatstheater. Ich würde nicht von einer Genugtuung sprechen. Aber die Biennale ist nicht zu hundert Prozent durch die Situation betroffen. Denn es gibt das eine oder andere, das auch mit Corona funktionieren könnte. Auch weil wir das Glück haben, uns nicht nur auf die nächsten zwei Wochen zu beschränken, wo nur digitale Dinge stattfinden können.

Was wäre, wenn die Politik die Klimakrise mit ähnlicher Entschiedenheit ernst nähme?

Manos Tsangaris: Was ich vor 40 Jahren mitnahm aus dem von Ihnen erwähnten Artaud-Text, war, dass er eine ganze Abfolge von unterschiedlichen Menschheitsplagen dargestellt hat, die darauf zielte, uns zu sagen: In dem Moment, wo die eine Plage erledigt zu sein scheint, kommt auch schon die nächste. Etwas daran zielt auf das, was Sie eben gefragt haben: Wir dürfen es uns nicht in irgendwelchen Gefäßen bequem machen und denken, bestimmte Menschheitsprobleme sind jetzt ein für allemal erledigt. Wie zum Beispiel: Eigentlich brauchen wir doch gar kein Theater mehr, wir können ja alles im Internet erledigen. Eine unserer Grundüberzeugungen ist, dass heutzutage die Bedingungen der Aufführungen Teil der kompositorischen und inszenatorischen Arbeit sein müssen. Es wird niemals eine bequeme Plattform geben, auf der man sich ausruhen darf.

Jetzt kommt etwas Neues in die Biennale hinein durch die Seuchenbedingungen, die in allen Bereichen vorhandene Brüche und Tendenzen verstärken. Was gerät dadurch für die Biennale in den Blick?

Tsangaris: Wir haben für dieses Jahr das Motto "Point of New Return" gewählt. Es war bezogen auf gesellschaftliche und globale Verhältnisse, die wie Einbahnstraßen wahrgenommen werden, sodass viele, gerade auch jüngere Menschen, das Gefühl haben, sie reden gegen Wände an, wenn sie andere Verhältnisse einfordern. Sei es der Generationenvertrag, sei es das Klima, seien es die Geflüchteten, die Ungerechtigkeit, der Turbokapitalismus. Unsere Überlegung, wie man das auch im Denken wenden könnte und welches Potenzial dabei das Musiktheater haben muss, das datiert schon vor der Covid-19-Krise. Wir müssen Schnitte wagen - das deutsche Wort "Ort" geht etymologisch auf "Spitze" oder "Schneide" zurück. Diese Schneide dabei ist für uns das Bewusstsein, mit dem wir Dinge wahrnehmen oder betreiben. Das Musiktheater hat die Aufgabe, unseren Ort immer wieder neu zu bestimmen. Wir glauben an die Möglichkeiten, die das Theater - "theatron": das, was schaubar macht - wahrnehmen muss, um über die Kunst hinaus relevant zu sein.

Ott: Auf dieses Thema sind wir auf ganz andere Weise gekommen als bei unseren ersten beiden Biennalen. Die haben wir vorgegeben. Dieses Mal haben wir ein paar Leute vorausgeschickt. Die haben an Projekten gearbeitet. Dann fiel uns auf, dass es dabei meist um Zukunft, um Science-Fiction, um Utopien, beziehungsweise oft um Dystopien ging. Es gab also einen roten Faden, der durch die Projekte entstanden ist. Dass das jetzt durch Corona so eine Dringlichkeit bekommen hat, konnten wir nicht ahnen. Praktisch alle unsere neun Projekte werden jetzt anders gesehen als vor einem Jahr. Ich freue mich einerseits, dass die Politik diese Seuchenherausforderung ernst nimmt. Was wäre, wenn die Politik die Klimakrise oder die Situation der Emigranten mit einer ähnlichen Entschiedenheit ernst nehmen würde? In diesem spannenden Moment darf das Musiktheater nicht kneifen. Es muss an dieser Diskussion um neue Formate teilnehmen.

Derzeit wird das Theater mit dem Fortgang der Seuche wöchentlich in ganz neue Zusammenhänge gestellt.

Tsangaris: Derzeit kann man alle möglichen Befürchtungen haben, es muss nicht gleich der Krieg zwischen China und den USA sein. Was geschieht in den begüterten Ländern des Nordens und des Westens, wenn die Wirtschaft auch nur ein klein bisschen zu wackeln beginnt? In einer Situation, in der ohnehin schon merkwürdige Extremismen auftauchen. Auf diese Bedeutungsveränderungen versuchen wir zu reagieren. Die Reaktion der Biennale war die Entwicklung eines dynamischen Festivals. Wir müssen von Woche zu Woche darauf reagieren, was geht. Das ist ein Überlebenskampf. Vor allem für die vielen freischaffenden Künstler und Künstlerinnen, auch für die Produzenten, für die Techniker. Für sie würde, wenn wir absagen, die Existenzgefährdung noch ansteigen.

Wir müssen die Funktionsweise unserer heutigen Demokratie auf den Prüfstand stellen

Ott: Alle neun Stücke für unser Festival sind fertig komponiert. "Journal Rappé", mit der die Biennale Freitag Abend beginnt, ist die einzige Produktion, die wie geplant stattfinden wird: gerappte Nachrichten aus dem Senegal. Sie werden ganz wie geplant gestreamt. Nur das Material, mit dem Keyti & Xuman arbeiten, ist durch die Seuche ein völlig anderes. Mich freut, dass erstmals eine Produktion aus einem anderen Kontinent hier ist, der zudem ganz andere Erfahrungen hat mit Seuchen. Was für uns extrem ungewohnt ist, ist in Afrika, auch in Lateinamerika, teilweise Alltag. Dort muss man aufpassen, weil so viele Krankheiten im Umlauf sind, für die es dort keinen Schutz gibt.

In solchen Kulturen, bei Artaud klingt das an, wird auch die Bedeutung von Kunst anders verortet. Man muss sich ihr ausliefern. Solang das alles im Internet geht, ist man aber sicher. Wenn jedoch Aufführungen mit Publikum wieder möglich werden, muss man zusammenkommen in einem nichtvirtuellen Raum. Da ist dann die Frage: Was ist mir die Kunst wert? Was bin ich bereit, auch von meiner Gesundheit, zu opfern? Im extremen Fall heißt das: Ja, da will ich hingehen, auch wenn es vielleicht mein Leben kostet.

Tsangaris: Was ist das Entwurfspotenzial der Gesellschaft? Wir alle hatten spätestens seit 1989 das Gefühl, dass der Turbokapitalismus und die Deregulierung das Einzige sind, was geht. Alle Alternativen wurden zur Seite geschoben als völlig absurd und undenkbar. Jetzt müssen wird die Funktionsweise unserer heutigen Demokratie auf den Prüfstand stellen, wenn Leute wie der amerikanische Präsident Trump durch geschickten Einsatz von Medien dazu in der Lage sind, ein ganzes Volk zu verführen. Welche systemischen Anforderungen stellt also die aktuelle Situation? Lange vor Covid-19 haben wir darüber nachgedacht, ob wir nicht zur Biennale die Münchner Räterepublik vom April 1919 neu ausrufen müssten. Das ist natürlich nicht ganz ernst zu nehmen, aber es gibt da einen politischen Zusammenhang. Damals war ja auch ein Künstler, Ernst Toller, maßgeblich mit daran beteiligt. Es geht um den Traum, sich nicht nur der Quantifizierung, dem Zählbaren, ausliefern zu müssen. Heute wird alles über Quantifizierungen bewertet. Wer die meisten Klicks hat, hat auch recht. Ja warum das denn! Es ist zu einem großen Problem geworden, dass in der westlichen Demokratieform alles über Quantifizierung läuft und nur noch wenig über Qualifizierung, über gründliches Nachdenken, über Abwägen.

Die Kunst hat eine Sonderrolle. Wenn Politiker wie Merkel oder Söder das Wort Kunst nur ungern in den Mund nehmen, dann deshalb, weil sie spüren, dass die Kunst gegen sie ist. Weil Kunst die Freiheiten hat, alles durchdenkend, durchspielend infrage zu stellen und abzulehnen.

Tsangaris: Deshalb wird und wurde seit je so gern und so intensiv versucht, die Kunst zu domestizieren. Stets werden, auch von uns Machern, gesellschaftliche Themen aufgemacht, und die Kunst soll das dann illustrieren. Kunst soll aber nur noch der Sidekick sein für bestimmte soziale wie politische und gesellschaftliche Phänomene. Gendergerechtigkeit und andere wichtigen Dinge werden nach vorne geschoben, und die Kunst soll das dann politisch korrekt ausmalen. So aber geht es auch nicht.

Die Kunst muss zurücktreten dürfen und über längere Zeiträume nachdenken

Ott: Die Kunst muss sich einmischen dürfen in die Tagesaktualität. Sie muss aber auch einen Schritt zurücktreten dürfen und über längere Zeiträume nachdenken, es muss ihr erlaubt sein zu abstrahieren, also, sich nicht direkt und kommentierend einzumischen. Kunst muss derzeit diese ganze Bandbreite von Möglichkeiten abdecken. Manos sagt, wir Künstler wären wie ein Werkzeugkasten. Es ist wichtig, dass dieser Werkzeugkasten offen bleibt und nicht, sei es durch Parteien oder eine politische Korrektheit, geschlossen wird. Auf der einen Seite denkt man darüber nach: Wie überleben Freischaffende und Opernhäuser? Gleichzeitig ist aber da auch dieses Misstrauen gegenüber der Kunst. Es heißt: Wir müssen jetzt zusammenhalten, jetzt ist nicht die Zeit für kritische Fragen. Nein! Jetzt ist genau der Zeitpunkt für kritische Fragen. Wir wollen uns nicht später darüber ärgern, dass wir nicht darüber reflektiert haben, was gerade passiert. Mit dem Gesundheitswesen, mit den Bürgerrechten, mit der Demokratie.

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