Münchener Biennale:Gesamtkunstwerk mit Wolpertingerwisent

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Die Musiktheaterbiennale bricht charmant radikal mit dem Musiktheater.

Von Reinhard J. Brembeck

Zwei Frauen stehen in silbrig glänzenden Mänteln zwischen den Bäumen an der dunkel und bedrohlich rauschenden Isar. Sie singen lange Haltetöne, in der Ferne knistert ein Lautsprecher. Die Radfahrer, die hier sonst im Expresstempo vorbeirauschen, werden durch das stumm staunende Publikum zum Halten gezwungen, mancher bleibt dann gebannt vor der rätselhaften Szene hängen: "Phone Call to Hades" ist ein Anruf in der Unterwelt, eine ferne Erinnerung an den Sänger Orpheus und dessen gleich zweimal tödlich endender Liebesgeschichte.

Zwei Stunden zuvor ausdrucks-tanzen vier schwarzgekleidete Performer in der nahen Muffathalle ein "ballet mécanique". Sie liefern glückstrahlend eine einstündig textlose Turnstunde mit Gesundheitsbällen, Zuckerwattemaschine, Miniriesenrad und Holzgerüsten. Komponist Hugo Morales Murguía hat dafür aus Röhren und einfacher Elektronik vierschrötige Instrumente gebaut, in denen Schlagwerker sitzen. Sie liefern einen wummernden und aufreizend rhythmischen Soundtrack, der den Aktionismus der schönen neuen Bühnenwelt als Narkotikum immer fordernder aufputscht: "Underline".

Daniel Ott & Manos Tsangaris brechen radikal mit der Ästhetik von Henze und Ruzicka

Und schon am frühen Abend laden Neele Hülcker und Judith Egger zu ihrem selbst gebastelten Riesenurviech ein, einem mythischen Wesen aus Pappe und Plastik, aus Luftballonen und Schaumgummi: Wolpertinger, Wisent und Minotaurus in Personalunion. Mit schnurlosen Kopfhörern sitzt und läuft das Publikum um das Knuddelmonster herum, an dem die beiden Frauen kratzen und schaben. Sie führen Minikameras in das schummrig beleuchtete Viech ein, sie versuchen seinem Wesen mit Ultraschall näher zu kommen: "Hundun".

Und wem das alles noch nicht genügt und durch das grandiose Sommerwetter nicht in den nahen Biergarten abwandert, der kann sich zwischen den drei Aufführungen in einem aus Leinwand gebauten roten Kubus vor der Muffathalle zur Meditation zurückziehen. Dort zeigt Meriel Price Videos, die sie an Münchner Alltags-locations gedreht hat, wo ein Trupp Aktionisten minimale Bewegungen ausführt. Sie starren auch ausgiebig in den Mülleimer, ganz wie im Projekttitel versprochen: "Staring at the Bin".

Mit diesen vier von insgesamt vierzehn Produktionen in zehn Tagen endete der letzte Uraufführungstag der fünfzehnten "Münchener Biennale. Festival für Neues Musiktheater" - so der sperrige und dringend änderungsbedürftige Titel dieses seit 1988 ausgerichteten Vorzeigeprojekts der Stadt. Das neue Kuratorenduo Daniel Ott & Manos Tsangaris bricht in seiner ersten Edition radikal mit den ästhetischen Grundsätzen ihrer Vorgänger Hans Werner Henze und Peter Ruzicka. Denen lag noch ein emphatisch romantisches Kunst- und Opernverständnis am Herzen. Da gab es in der Regel also Sänger, die vom Orchester begleitet ein Thema auf der Guckkastenbühne verhandelten, da wurde Klassik noch als E-Musik verstanden, die deshalb durchaus eine Zumutung für die Nerven des Publikums sein durfte.

Tsangaris, Ott und ihre Mitstreiter aber verweigern sich lustvoll diesem staatstheatralischen Musiktheaterdenken. Sänger mit Orchesterbegleitung war gestern und ist jetzt in München ein Ausnahmefall. Statt dessen drängen die Stücke fern aller Etiketten leichtgängig ins Off und in den Alltag. Sie suchen jenseits jeder Kunstgrübelei das Einverständnis mit dem Publikum, das nie schockiert, sondern höchstens mal gelangweilt wird. Und sanft zum Nachdenken über seine Erwartungen ans "neue Musiktheater" angeregt wird.

Das ist nicht für alle inspirierend, das mag teilweise die Enttäuschung mancher Besucher über diese Biennale erklären. Denn die hehre Kunst, als die Klassik und Oper vielen ihrer Anhänger gilt, ist für diese Biennale dezidiert kein Leitbild. Auch der Primat der Musik, einst unverzichtbar für alle Vordenker des Musiktheaters, wird regelmäßig unterlaufen. Am radikalsten, aber extrem musikalisch in der Lesung "Nez Ser" von Arno Camenisch. Entsprechend finden sich in vielen Stücken ausgedehnte Sprachpassagen, die aber oft nichts anders ermöglichen als traditionelles Sprechtheater. Manchmal wirkt das dann leicht bleiern wie in "Für immer oben" oder "Sweat oft he Sun", manchmal entwickeln sich daraus faszinierende Stückideen wie in "if this then that and now what" oder "Speere Stein Klavier".

In letzterem Stück werden in einer beengten Dachkammer (der Geschichte) mit diabolischem Witz Objekte aus Münchens NS-Vergangenheit katalogisiert, die bis heute präsent sind: Modelle vom Führerbau (heute Musikhochschule), eine Granitplatte vom Königsplatz oder Josef Wackerles Skulpturenkitsch. Die Anbiedereien von Carl Orff und Werner Egk werden dokumentiert, Schellack- und Vinylplatten gespielt, Filmschnippsel flimmern über den Uraltfernseher, Hitlers Kuh-Bilder-Wahn kommt genauso zur Sprache wie der Bericht über einen Bombenangriff auf München. Das brillant spiel-singende Ensemble wird angeführt von Samantha Gaul, die perfid süßes Mädel mit Lady Macbeth mischt. Hinter der Bühne spielen die Augsburger Philharmoniker auf, Märsche, NS-Schnulzen und die knappen Reflexionen von Genoël von Lilienstern. Das Ganze ist frech lächelnde Revue und feine Vergangenheitsbewältigung.

Und irgendwie auch ein Stück Musiktheater. Aber wie alle Biennaleproduktionen letztlich nur ein Bühnenstück, in der die Musik bei weitem nicht die entscheidende Rolle spielt. Denn Ott & Tsangaris legen den "Musiktheater"-Begriff maximal weit aus, was ebenfalls nicht nur auf Gegenliebe stößt. Die Kuratoren mögen Söhne der Konzeptkünstler John Cage und Joseph Beuys sein, ihre große Liebe aber gilt unser aller Ahnvater Erik Satie und dessen "musique d'ameublement". Musik ist daher bei dieser Biennale nur ein Theaterbauteil unter vielen, gleichberechtigt mit Stuhl, Sängerin und Wolpertingerwisent, Schauspieler, Schwimmbad oder einem selbstfahrenden Skateboard. Weshalb sie sich nie allzu ernst nimmt, sondern immer klaglos dezent ihre theatralische Dienerrolle erfüllt.

Die damit einhergehende Absage an die überkommen Formen und an alles reiche Staatstheaterprotze à la Maximiliansstraße aber ist unheimlich wohltuend. So unanstrengend unangestrengt, so von Leichtigkeit durchsetzt, kam noch keine Biennale daher. Trotz einem Zweijahresetat von knapp über zwei Millionen Euro scheint Peter Brooks "armes Theater" hier eine Auferstehung zu feiern. Dazu passt, dass viel improvisiert wirkt, sich einer letzten Aushärtung der Ideen verweigert und spielerisch verspielt ins Offene zielt.

Letztlich ist es sinnlos, eine einzelne Produktion hervorzuheben oder zu verdammen. Denn diese Biennale präsentiert sich als ein Gesamtkunstwerk, das in den unterschiedlichsten Emanationen immer wieder den gleichen Grundgedanken ausführt. Alle Macher versuchen, durch eine leichte Akzentverschiebung die verborgene Poesie und die Magie alltäglicher Orte oder vertrauter Gegenstände aufscheinen zu lassen. So sind durchgehend Events entstanden, die im landläufigen Sinn des Wortes "sinnfrei" sind, weil nur bei sich selbst. Aber die dadurch frei gesetzte sinnfreie Poesie - das ist nicht nur eine Behauptung der Biennalemacher - ist das Schönste, was Kunst überhaupt hervorbringen kann.

Niemand wird so schnell den bei Saunatemperaturen im Müllerschen Volksbad dümpelnden und brav Quinten singenden Münchner Knabenchor vergessen, genauso wenig das erwähnte Wolpertingerwisent, die nächtlichen Totenreicherscheinungen an der Isar oder die zerklüfteten Gipsskulpturenobjekte in den Einsteinkatakomben, die Stephanie Haensler in "Mnemo/scene: Echos" mit einem riesigen psychedelischen Adagio zu ergründen sucht. Der in solchen Projekten gewonnene Perspektivenwechsel schärft nicht nur die Wahrnehmung der Orte im Bewusstsein der Zuschauer, er verändert anscheinend die Orte selbst.

Das ist natürlich nur eine Illusion. Aber zum Wesen der Kunst gehört es, dass sie ihre Rezipienten zu solchen der Wirklichkeit widersprechenden Anschauungen verführt. Die diesjährige Biennale ermöglicht etliche solcher Illusionen. Da fällt es dann nicht weiter ins Gewicht, dass nicht alles (restlos) gelungen ist und dass etliche Projekte wie Akademieabschlussarbeiten wirken. Oder dass gerade die längeren Stücke "if this then that and now what" und "Underline" nach einem brillanten Auftakt dann zu keinem ebensolchen Abschluss finden, dass manchmal zu viel gequatscht wird, oder sich einige Regisseure allzu genügsam mit der Location und dem Setting zufrieden geben. Darüber lässt sich mühelos stundenlang lästern. Doch damit tut man sich keinen großen Gefallen. Tsangaris & Ott haben das Musiktheater zwar nicht neu erfunden, sie haben ihm aber seine charmant poetische Beiläufigkeit wieder gegeben.

© SZ vom 08.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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