Süddeutsche Zeitung

Oskar Maria Graf:"Der Graf hat mich schon in der Schulzeit fasziniert"

Weil ihn der bayerische Autor seit seiner Kindheit nicht loslässt, schrieb ihm Georg Unterholzner mit zwei Musikern das "Oskar-Maria-Grafical": eine musikalische Lesung, die nun im Theater im Fraunhofer zu hören ist.

Von Wolfgang Görl

Ein stampfender Rhythmus, dazu die bluesige Basslinie, darüber der Chorgesang der beiden Gitarristen: "Dirty old man." Mit kratzig-rauer Stimme setzt Georg Unterholzner ein: "Du oids Weibsbuild, lass mi in Ruah, stinkst ausm Maul und schaugst aus wia da Tod." Er schimpft das heraus, eine Tirade, aber dann wird er schmachtend bittersüß, der Groove ist weg, und es klingt fast volksliedhaft: "I mog de Madl, de junga, de riachn so guad, und sie san, sie san so schee . . ."

Der Mann, um den es hier geht, ist der Kastenjakl, der Großonkel Oskar Maria Grafs, der eine nicht gerade rühmliche Rolle in den Geschichten des Schriftstellers spielt. Der Kastenjakl ist ein bösartiger alter Krauderer, der griesgrämig in einer Kammer haust, alte Mägde beschimpft, aber in sabbernde Lüsternheit verfällt, wenn ihm die junge Kellnerin den Kaffee bringt. Meckernd lachend wie ein Ziegenbock betupft er die Brust oder den Hintern der jungen Frau, die sich aber zu wehren weiß. Mit einem lässigen "Geh weg, damischer Tropf!" weist sie ihn in die Schranken.

So einer war der Kastenjakl, ein Lustgreis, ein Grapscher, ein dirty old man. Es wäre ein Leichtes gewesen, hätte Unterholzner in seinem Songtext den alten Bock nach allen Regeln der Kunst der Lächerlichkeit preisgegeben. Ja, der Kastenjakl ist ein fieses Schwein - aber ist er nicht auch eine arme Sau? Ein verhutzelter alter Knacker, der nichts mehr zu hoffen hat und einsam seinem Ende entgegen vegetiert? Auch diese Seite hat Unterholzner in das Lied eingebaut, und wenn er singt, dann ist es, als wäre er selbst für einen Moment der greise Flegel, und für den anderen der bedauernswerte Sonderling.

Auf den ersten Blick sieht es so aus, als würden die drei Männer einen Volksmusikabend veranstalten - zumindest ihre Klamotten legen das nahe. Trachtenjoppen, Lederhosen, grüner Hut. Damit wären sie auch für einen alpenländischen Hoagascht bestens kostümiert. Aber sie machen etwas ganz anderes. "Grafical" heißt ihr Projekt, und wer vermutet, das hätte was mit grafischer Kunst zu tun, irrt. Es geht um Oskar Maria Graf, den großen bayerischen Schriftsteller, geboren 1894 in Berg am Starnberger See als Sohn einer Bäckerfamilie.

Bereits als Jugendlicher war er vor der Tyrannei des älteren Bruders nach München geflohen, wo er als Tagelöhner schuftete, aber auch das Bohèmeleben genoss. Vor allem aber schrieb er, Gedichte zunächst. Auch trieb sich Graf, der undogmatische Sozialist, in der Revolution 1918/19 herum, deren blutiges Ende er überlebte. Dann die ersten größeren literarischen Erfolge in den Zwanzigerjahren, die Flucht vor den Nazis, das Exil in New York, wo er am 28. Juni 1967 starb. Dieses Leben will das Trio nacherzählen, mit Texten des Autors und mit Songs, die Grafs Geschichten kommentieren oder ihren Figuren eine Stimme geben, untermalt mit Musik.

Vor einiger Zeit ist Georg Unterholzner mit einer Reisetasche voller Graf-Bücher nach Bernried am Starnberger See gefahren. Er quartierte sich im dortigen Kloster ein und machte sich daran, aus der riesigen Menge der autobiografischen Werke Grafs diejenigen rauszusuchen, welche dessen wichtigsten Lebensstationen schildern und sich zudem gut vortragen lassen. "Der Graf hat mich schon in der Schulzeit fasziniert", erzählt er. Ein Buch nach dem anderen hat er gelesen, "Das Leben meiner Mutter", "Wir sind Gefangene", "Anton Sittinger", "Unruhe um einen Friedfertigen" und so weiter. In den Geschichten, die auf dem Land spielen, hat er vieles entdeckt, was er von zu Hause kannte. Unterholzner, Jahrgang 1961, ist auf dem Dorf, in Hornstein, aufgewachsen, die Eltern hatten eine kleine Landwirtschaft mit sieben Kühen. Graf-Milieu könnte man sagen.

Im bürgerlichen Leben ist Unterholzner Tierarzt, nebenbei hat er fünf Krimis geschrieben, in denen nicht der Kommissar, sondern zwei junge Burschen, Internatsschüler wie er, ermitteln. Aber da war ja noch die Begeisterung für Oskar Maria Graf, für dessen virtuose Menschenschilderungen, für seinen Humor, seinen Pazifismus, seinen Kampf gegen die Nazis. "Das Grafical", sagt Unterholzner, "ist eine Hommage, eine Verbeugung vor dem großen bayerischen Schriftsteller."

Als Unterholzner zur Klausur ins Kloster fuhr, wusste er noch nicht recht, welche Texte er brauchen würde. Relevante Szenen sollten es sein, die aneinandergereiht "wie Farbkleckser" ein Gesamtbild ergeben. Am Ende hatte er so viele, dass er einige "Darlings killen" musste, damit das Programm nicht zu lang würde. Nun war er so weit, die ersten Liedtexte zu schreiben und sich mit den Musikern zusammenzusetzen. Josef Kloiber kannte er schon länger. Der 55-Jährige ist ein erstklassiger Gitarrist und überall, vor allem aber in der Volksmusik zu Hause, was kein Wunder ist, denn sein Großonkel war der legendäre Kraudn Sepp.

Martin Regnat ist ein Meister auf der Diatonischen - er selbst spricht nur von der "Ziach" - , aber auch auf der Kontragitarre oder der kanarischen Timple kann er sich hören lassen. In Regnats Proberaum haben sie dann herumexperimentiert, bis es passte. Nicht immer passte es sofort. Beim Dirty old Man, dem Kastenjakl-Lied, hat es gedauert, "bis wir das richtige Feeling hatten". So erzählt es Regnat, der im Übrigen ein wunderbares, leicht nostalgisch-melancholisches Vorspiel geschrieben hat, das als Leitmotiv mehrmals wiederkehrt - und dies, obwohl ihm Graf zunächst kein Begriff war. "Ich war scho kurz davor, dass ich frag, ob der da auch mitmacht."

Zu hören ist zunächst das Gitarre-Ziach-Vorspiel, dann legt Unterholzner los, mit kräftigem, oberbayerisch getöntem Organ: "Werter Herr Verlag (. . . ) Ich hab es nie nicht mit der schweren Arbeit gehabt, weil man da auch zu nichts kommt. Es ist schon lang hergegangen, bis ich mich in der Schriftstellerei habe installieren können, aber ich könnte jetzt eigentlich nicht klagen darüber, weil es eine sitzende Beschäftigung ist. Es brauchts gar kein Schwitzen dabei, bloß immer auf dem Stuhl muss man sein und natürlicherweise macht es auch Kopfarbeit."

Diese absichtlich ungelenke Selbstcharakterisierung hat Graf als Vorwort seines 1932 erschienenen "Notizbuch eines Provinzschriftstellers" geschrieben. Als Provinzschriftsteller, als Kraftlakl, als bayerisches Urviech hat er sich gern inszeniert. Es war auch eine Maskerade, die ihm Freiheiten verschaffte - auch gegenüber dem "werten Herrn Verlag". Regnat und Kloiber ergänzen den holprigen Brief mit einem wunderbar luftigen Gstanzl: "Mit der Arbeit hab i's nia ned ghabt, da schwitzt ma bloß, bis ma di eingrabt. . ."

Was die beiden Musiker da anstellen, ist weit mehr als nur das Begleitprogramm zur Lesung. Das Grafical ist eine musikalisch-literarische Komposition, in der Text und Musik gleichwertig sind. Wenn Unterholzner aus Grafs Roman "Das Leben meiner Mutter" liest, wenn er erzählt, wie Mutter Resl mit ihrem Mann, dem Bäcker Max Graf, in Streit gerät, weil der mal wieder bauen will, und wie das Ganze mit einem Wutanfall des Mannes endet, dann wird im zugehörigen Lied noch eins draufgesetzt: Der Einzelfall dient als Beispiel für die generelle Lage der Frau im 19. Jahrhundert. "Du musst gehorchen, ein Leben lang / Erst deinem Vater, dann dem Mann / Im Katechissimus steht drin / Du, Eva, bleibst a Sünderin."

Mit geschickt ausgewählten Texten lässt Unterholzner das Leben Grafs Revue passieren. Da sind zum Beispiel die Jugendjahre, das gar nicht so idyllische Leben auf dem Land. Da waren die Habgier und die Hinterfotzigkeiten der Männer, die brutale Gewalt, das Elend der Frauen, die Not der Armen und Außenseiter. Dann aber auch die komischen Momente, für die kauzige Sonderlinge wie der Schmalzer Hans sorgten. Diesen zu schildern, geht Unterholzner stimmlich und mimisch ans Äußerste. Man sieht ihn förmlich vor sich, ihn, den Hans, den alten Suffkopf, der ums Verrecken nicht sterben will, man hört, wie er vor sich hinbrabbelt und seinen Schnaps schlürft. "Schmoiza verreck, Schmoiza werd hi!", singt dann Unterholzner zu rockigen Riffs. "Die Welt wär vui besser, vui besser ohne di." Das ist Volkes Stimme, das böse missgünstige Volk. Ist da nicht der Schmalzer Hans der sympathischere Mensch, ein beschwipster Freigeist, dem es vollkommen wurscht ist, was die anderen über ihn denken?

Das Grafical endet mit dem Aufruf "Verbrennt mich". Mit dem im Mai 1933 in der Wiener Arbeiterzeitung publizierten Aufschrei protestierte Graf gegen die Schmach, dass die Nazis bei der Bücherverbrennung nicht auch seine Werke in die Flammen geworfen hatten. "Diese Unehre habe ich nicht verdient", warf er den "Vertretern dieses barbarischen Nationalismus" entgegen.

Damit begann sein Exil. Gitarrenklänge, Ziachtöne. "Wann ma furt muaß". Die melancholische Anfangsmelodie. Dazu Unterholzner: "Auf Amerika is a umme, und in New York is a bliebn."

Oskar-Maria-Grafical, mit Georg Unterholzner, Martin Regnat und Josef Kloiber, Mittwoch, 13. November, Theater im Fraunhofer

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SZ vom 11.11.2019/syn
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