München:Drei Stunden Eifersucht und Wahn, ganz locker

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Die Welt besteht in dieser Inszenierung aus einer Schützenscheibe: Hier dient sie der Gräfin Eberbach, gespielt von Margarete Joswig, als Podest. (Foto: Christian Pogo Zach)

Ein sexbesessener Adeliger stellt einem Bauernmädchen nach, das seine eigene Schwester ist: Der "Wildschütz" am Gärtnerplatz ist eine rasante Boulevardstudie ohne Schunkelseligkeit.

Von Rudolf Neumaier, München

Dieses Libretto erzählt eine völlig verrückte Geschichte. Albert Lortzing hat es nach einem Lustspiel von August von Kotzebue geschrieben. Unter anderem stellt in "Der Wildschütz" ein sexbesessener Adeliger einem Bauernmädchen nach, das seine eigene Schwester ist. Die Frau hat sich verkleidet - er erkennt sie nicht! "Reiche, denn ich schmachte sehr, mir zum Kuss dein Mündchen her", bettelt er sie an.

Fürs Kino wäre diese Geschichte zu bizarr. Und Schauspiel-Intendanten rümpfen vor solchen Verwandlungsklamotten nicht einmal die Nase. Was vor 180 Jahren delikat war und pikant, wäre heute öde. Dieser Aberwitz funktioniert - wenn überhaupt - nur noch im Musiktheater.

Die Oper, diese große Fantasiefabrik, darf sich solche Schwänke aber auch nur erlauben, wenn ihr ein origineller Kommentar dazu einfällt. Am besten szenisch und musikalisch. Mit dem Regisseur Georg Schmiedleitner und dem Kapellmeister Michael Brandstätter hat Josef Köpplinger, der Chef des Münchner Gärtnerplatztheaters, zwei Künstler gefunden, die über genau den Esprit verfügen, mit dem Albert Lortzing im Jahr 1842 den "Wildschütz" 1842 komponierte. Er machte sich darin über Zeitgenossen lustig und spießte ihre Marotten auf - die Leidenschaft des Preußenkönigs für die griechische Antike zum Beispiel. Ihre satirischen Zeitbezüge büßte diese Oper ein, übrig blieb eine Schmonzette mit einer Musik, die aber über jede Operettenschnulzigkeit erhaben ist.

Das Tempo, das Schmiedleitner und vor allem Brandstätter im Orchestergraben vorlegen, verhindert jede Schunkelseligkeit und biedermeierliche Schwelgerei - und lässt kein Grübeln darüber aufkommen, ob die Geschichte aus Kotzebues Klamottenkiste stammt. Was wie ein böser Kommentar zur Geschlechterdebatte beginnt, endet in einer Boulevardkomödie.

Der "Wildschütz" ist ein alter Dorflehrer, der beim Wildern erwischt wird. Für die Verlobungsfeier mit Gretchen, die er als Waisenkind aufgenommen und erzogen hatte, sollte er auf Wunsch der Braut einen Rehbock erlegen. Heikle Verehelichungs-Konstellationen wie diese gibt es öfter in Opern, erinnert sei nur an Rossinis "Barbier von Sevilla".

Schon die Verlobungsfeier inszeniert Schmiedleitner wie einen Leichenschmaus. Damit der Lehrer nicht seinen Job verliert, muss irgendwer den Grafen besänftigen. Aber wer? Auf keinen Fall sein Gretchen, sagt der alte Trottel. Womit schon mal zwei Fundamentalmacken abgehakt wären in dieser Männerstudie: Eifersucht und der Wahn, eine Frau besitzen zu können. Schmiedleitners makabre Auflösung sieht allerdings vor, dass der Lehrer das emanzipierte Gretchen ganz am Ende, wenn der Vorhang schon gefallen ist, doch kriegt. Er reißt sie mit sich mit Gewalt, skrupellos. Den Schulmeister singt Levente Páll, ein Bass von beachtlicher Wucht in allen Hoch- und Tieflagen.

Die Jäger, ach, alle Männer sind Böcke, ihre Gewehre tragen sie zwischen den Beinen wie gereckte Geschlechtsorgane. Frauen betrachten sie als Freiwild - Statistinnen spielen die Beute, niedergestreckt mit Blattschuss. Und im Orchestergraben bläst Michael Brandstätter der Jagd jede Romantik aus dem Haferlschuh, die Waldhörner schmettern Waidmanns Unheil. Der monströseste Bock von allen ist der Graf von Eberbach: Er kommt mit dem größten Geweih auf dem Schädel und später präsentiert er das größte Gemächt - einen Billardqueue mächtig und lang wie eine Lanze, zwischen den Beinen.

Mathias Hausmann spielt ihn als monströsen Lustmolch, mit seinem brachialen Bariton raubt er ihm den Rest von Charme, den Lortzing der Partie noch zugeschrieben hatte. Immerhin beschwört der Graf die Liebe. Doch in Schmiedleitners Inszenierung ist das nur ein anderes Wort für Geilheit, die übergriffig wird. Dieser Regisseur - er kommt vom Schauspiel - nimmt es locker auf mit dem vollständigen Libretto. Also auch mit allen zähen Dialogen.

Allenfalls die Rolle des Dieners Pancratius hat er von Relikten preußisch-sächsischen Uralthumors befreit. Pancratius und die Gräfin Eberbach, die Margarete Joswig als eine Mischung aus Mae West und Hildegunde der Lust darstellt, liefern eine feine Slapstick-Nummer: Die Gräfin deklamiert Sophokles, Pancratius assistiert mit Bühneneffekten.

Die Welt besteht im neuen Wildschütz am Gärtnerplatz aus einer Scheibe - einer Schützenscheibe, entworfen vom Bühnenbildner Harald B. Thor. Daneben kommt die Drehbühne zum Einsatz, auf der Chor und Ensemble zum gemeinsamen Presto-Powerwalking choreografiert sind. In den Schlossszenen dient die Scheibe als Billardtisch, auf dem sich die Schwester und der Schwager des Grafen in Liebe vereinen. Dieses Paar ist bei der elanvollen Sopranistin Mária Celeng, der glänzendsten Erscheinung des Abends, und beim Tenor Lucian Krasznec phänotypisch und stimmlich bestens aufgehoben.

Den Wildschütz ungekürzt in drei Stunden inklusive einer 25-minütigen Pause zu spielen, klingt nach Rekord. Es zahlt sich aus. Eine rasante Oper.

© SZ vom 22.01.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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