Süddeutsche Zeitung

Mozartoper in Wien:Nachgeben ist heldenhafter als Abschlachten

Mozarts "La Clemenza di Tito" am Theater an der Wien gerät zur Sängersternstunde.

Von Helmut Mauró

Vitellia ist unruhig. Sextus, ihr Geliebter, scheint ihr zu zögerlich. Er soll das Kapitol anzünden, und zwar schnell. Ein Volksaufstand muss her, um Kaiser Titus zu stürzen. Der hat tatsächlich vor, eine Frau aus dem gerade eroberten Judäa zu heiraten und sie damit zur römischen Kaiserin zu erheben. Die Römer aber wollen eine Römerin. Vitellia weiß die Mehrheit auf ihrer Seite. Rom muss brennen. Als Opernbesucher freut man sich auf solche Aussichten, da gibt es Spektakel auf der Bühne. In Wolfgang Amadeus Mozarts später Oper "La Clemenza di Tito", uraufgeführt im September 1791 in Prag, drei Wochen vor der Wiener "Zauberflöte", findet der Brandanschlag dann aber doch nicht statt.

Diesmal siegt das Gute, und das ist im christlichen Sinn: die Güte. Die Milde, die Nachsicht selbst mit dem Mörder, die Gnade für den Verräter. Regisseur Sam Brown siedelt sie in einer Art intellektuellem Zwischenreich an, in einem Säulengang aus Lichtstäben. In dieser fast virtuellen Stoa wird die Sache verhandelt, wie sie einst auch die Stoiker in ihrer Wandelhalle diskutiert haben mögen. Allerdings ist auf der Bühne Parteilichkeit oberstes Gebot. Niemand betrachtet die Dinge von außen, jeder ist emotional engagiert. Wie sehr, das zeigen in Wien die hervorragenden Solisten mehr noch als der begleitende "Concentus Musicus Wien". Bis auf den nicht ganz so überzeugenden Jeremy Ovenden als Titus glänzen die Sänger selbst dort, wo sie, anders als in den Mozartschen Buffa-Opern, die Handlung kaum vorantreiben, die Szenen fast statisch in sich ruhen.

Der Countertenor David Hansen glänzt dabei in der umfangreichen Partie des Sesto vor allem als Charakterstimme, die ganz im Sinne Mozarts das Individuum feiert anstelle eines abstrakten Typus'. Sestos Freund Annio allerdings, der dessen Schwester liebt, die später von Titus als neue Braut ins Auge gefasst wird, hat einen noch stärkeren stimmlichen Fürsprecher: Der koreanisch-amerikanische Countertenor Kangmin Justin Kim verkörpert die Rolle mit großer Theaterleidenschaft, seine Stimme aber ist schlichtweg eine Sensation. Einen so makellosen Counter hat man noch nicht gehört, immer wieder zweifelt man, ob hier nicht doch eine Frau singt. Das geht natürlich auf Kosten persönlicher Färbung, aber das Ergebnis verblüfft in dieser Perfektion und Routine allemal. So ähnlich könnte tatsächlich ein Kastrat geklungen haben. Es ist nichts Angestrengtes in der Stimme, kein Falsett-Gequäke, kein überspanntes Travestiegegurgel, kein pubertäres Kieksen.

Die für das eigentlich Dramatische viel wichtigere Figur ist Sesto, musikalisch noch vor Titus die eigentliche Hauptrolle. Sesto trägt das Herz auf der Zunge, seine Naivität ist rührend und erschreckend, vor allem im Gegenüber zur eiskalten Vitellia (stimmkräftig, wenn auch nicht die ganz große Stimme, aber charaktervoll, technisch routiniert: Nicole Chevalier). Mozarts Gnade für die Schreckliche: Nicht nur Sesto, sondern auch sie bekommt bei ihrer Arie eine warmherzige Soloklarinette zur Seite gestellt.

Wie immer hat Mozart große Sympathie für den aufrecht Naiven, hier also Sesto, aber er wünscht sich am Ende doch den aufrecht Klugen: die souveräne Güte, die mächtige Menschlichkeit, den gütigen Menschengott, wie ihn Bassa Selim in der "Entführung", Sarastro in der "Zauberflöte" und Titus in "La Clemenza" erfüllen. Bei aller Freimaurerei: Mozart kehrt stets die urchristliche Tugend heraus, die tödliche Gewaltspirale der Auge-um-Auge-Mentalität zu durchbrechen. Nachgeben ist heldenhafter als Abschlachten. Im "Titus" konzipiert Mozart diese Botschaft nicht einfach als lieto fine, sondern als alles durchdringendes inhaltliches Konzept.

Vielen galt und gilt der "Don Giovanni" als Höhepunkt nicht nur des Mozartschen Opernschaffens, sondern als Gipfelpunkt des Genres überhaupt. Dass Mozart danach noch drei wichtige, psychologisch und politisch weit raffiniertere Opern verfasste, wird oft übersehen. "La Clemenza di Tito", ist die politischste aller Mozart-Opern. Ja, sie ist eigentlich ausschließlich politisch. Hier geht es nicht mehr nur um unterhaltsame Anspielungen wie im "Don Giovanni" oder um Seitenhiebe wie im "Figaro", und auch die Liebeshändel sind im Titus gerade mal dazu bedeutend, den eigentlichen Inhalt in eine theaterhafte Handlung zu übersetzen. Schließlich ging es um eine festlich-repräsentative, gleichwohl unterhaltsam-erbauliche Veranstaltung zur Krönung Leopold II. Und da war auch das kulturelle Rahmenprogramm höchste Staatsangelegenheit.

Geld spielte keine Rolle, Agenten suchten in Italien nach den besten Sängern, als Komponist sollte "da un cellebre Maestro" kommen. Die Wahl fiel auf Mozart. Nachdem dessen Lieblingslibrettist da Ponte beim Kaiser in Ungnade gefallen war, entschied man sich für Caterino Mazzolà, der Pietro Metastasios "La Clemenza di Tito" nach Mozarts Vorstellungen umarbeitete. Eine sichere Wahl, denn erstens kam der Vorschlag des Metastasio-Stoffes - er war seit 1734 schon vielfach vertont worden - von den höfischen Auftraggebern selber, wenn auch nur als Notlösung gedacht, falls die Zeit knapp würde. Zweitens war Metastasio noch immer der berühmteste Operndichter, und zudem hatte Mozart in seiner Jugend bereits zwei Libretti - auch hier schon in teils einschneidenden Bearbeitungen - von Metastasio vertont. Das war lange, bevor er als Großmeister der Opera Buffa in Erscheinung trat.

Dass er nun, am Ende seines Schaffens, zur Seria zurückkehrt, ist nicht allein mit den gegebenen äußeren Umständen erklärt. Diese Umstände betreffen etwa die Tradition, die Krönungsoper in der Art eines Fürstenspiegels zu gestalten, also als Mahnschrift und Wunschdenken, wie der Herrscher im Idealfall zu regieren habe. Natürlich musste dies für eine Oper als Verherrlichung des anwesenden Machthabers kaschiert werden - eine pädagogisch ja durchaus sinnvolle Variante. Dass diese Programmatik für Mozart am Ende viel mehr bedeutete als nur eine musikalische Mahnschrift an den Herrscher, zeigt sich in der Musik, die kaum auf appellatives Pathos setzt, sondern meist auf empathisch-individuelle Ausgestaltung. Das Problem dabei, das auch noch bei der gelungenen Produktion am Theater an der Wien immer wieder durchschien: Metastasios und Mozarts grundverschiedene Auffassung von Bühnendramatik.

Die am Sprechtheater orientierte Erzählhaltung, die in Metastasios barocken Libretti in recht ausführliche Rezitative mündet, steht Mozarts Konzept einer von der Musik her und in musikalischen Nummern gedachten Dramatik entgegen. Erst Mazzolàs gründliche Umarbeitung, die höchstwahrscheinlich in enger Abstimmung mit Mozart geschah, bot die Voraussetzung für eine "vera opera", wie Mozart anmerkte. Und in der dominiert die Musik weit über dem Text.

Insofern hätte das Orchester des Concentus Musicus profilierter auftreten können, eigenständiger, charakteristischer. Dirigent Stefan Gottfried, der Nachfolger Harnoncourts als Chef des Ensembles, verstand sich aber mehr als Sänger-Unterstützer, was im Zweifel nicht falsch ist. Die Solisten haben es ihm gedankt mit einer furiosen Leistung, die diese Produktion wesentlich trägt.

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Quelle:
SZ vom 23.10.2019
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