Motivationsstrategie:Totale Überwachung? Ein Kinderspiel!

Gamescom

Wie bei virtuellen Spielen wollen auch Städte auf Belohnungen setzen - und zwar im Alltag.

(Foto: dpa)

Um infrastrukturelle Probleme zu lösen, setzen Städte vermehrt auf Gamification. Damit wollen sie Bürger spielerisch zu einem besseren Verkehrsverhalten erziehen.

Von Adrian Lobe

Als das israelische Start-up Waze 2009 seine Navigations-App lancierte, konnten Nutzer den Kartendienst in eine Echtzeitversion des Videospiels Pac-Man verwandeln. Mit seinem Fahrzeug konnte man durch das labyrinthartige Straßennetz kurven und dabei "Road Goodies" wie etwa Kirschen aufsammeln. Mit dem Gimmick wollte der crowdbasierte Dienst nicht nur seine Nutzer bespaßen, sondern Daten sammeln. Waze platzierte die Road Goodies an neuralgischen Punkten, wo das System eine Unterbrechung von zwei Straßen identifizierte. Wenn der Autofahrer eine Kreuzung passierte, die noch nicht kartiert war, und ein Goodie einfuhr, folgerte die Software, dass die beiden Straßen ineinanderlaufen. Einzige Spielregel: Man musste der erste Nutzer sein, der über das Symbol fährt. Täglich wurde das Spiel aktualisiert.

Der Belohnungsmechanismus stachelte Nutzer an, Gegenden abzufahren, in denen sie ein Goodie erwartete. Der Waze-Nutzer Micheal Mullen schrieb damals: "Anscheinend hat ein Schwachkopf schon die Hälfte aller Pellets auf dem Weg zur Schule meines Sohnes verschlungen. Für ein paar Extrapellets bin ich auf dem Rückweg ein paar Nebenstraßen abgefahren."

Das Navigationsspiel zeigt, wie man Nutzer steuern kann, indem man virtuelle Köder auslegt. Das Gimmick ebnete den Weg für Spiele-Apps wie Pokémon Go, bei dem im Sommer 2016 Millionen Menschen mit ihren Smartphones virtuelle Monster jagten. An Orten, an denen sich keine Menschenseele sonst verirrte, stand plötzlich eine Heerschar Pokémon-Go-Spieler.

Der Boom der Augmented-Reality-App ist inzwischen etwas abgeebbt, trotzdem diskutieren Städteplaner über die Potenziale einer Gamifizierung. Könnte man nicht den Verkehrsfluss optimieren, indem man Gutscheine als Lockmittel auf die Straße legt, um einen Anreiz dafür zu schaffen, außerhalb der Stoßzeiten zu fahren? Eine Art negativer Maut? Könnte man auf diese Weise den öffentlichen Raum revitalisieren? Wie wäre es, einen Pokéstop vor dem Wahllokal einzurichten, um die Wahlbeteiligung zu erhöhen?

Man muss nur genug Punkte sammeln, dann ist die Mission erfüllt

Gamification gilt als der nächste Schrei in der "Urban Tech"-Bewegung. Die Idee: Man erzieht die Leute nicht autoritär durch Bußgelder, sondern spielerisch. Der Homo ludens will schließlich nicht gehorchen, sondern spielen.

2010 startete die schwedische Verkehrssicherheitsbehörde in Stockholm ein Experiment zur Geschwindigkeitsreduzierung: Sie installierte eine Radarfalle, die jedes Nummernschild fotografierte. Temposünder zahlten wie gewöhnlich ihr Bußgeld. Der entscheidende Unterschied: Verkehrsteilnehmer, die sich an das Tempolimit hielten, nahmen an einer Lotterie teil, bei der ein Teil der Bußgelder verlost wurde. Das schaffte einen doppelten Anreiz: Zum einen wollte man an der Verlosung teilnehmen. Zum anderen wollte man verhindern, dass andere vom eigenen Geld profitieren. Wenn man schon zur Kasse gebeten wird, dann soll lieber der Staat profitieren als der Vordermann im Stau. Die Methode erwies sich als effektiv: Nach Einführung der Kameralotterie reduzierte sich die durchschnittliche Fahrtgeschwindigkeit von 32 auf 25 Stundenkilometer. Der Erfinder der "Speed Camera Lottery", der Amerikaner Kevin Richardson, belegte beim "Fun Theory Award" von Volkswagen den ersten Platz.

Es gibt mittlerweile zahlreiche Einsatzgebiete für Gamifizierung in Städten. In Hildesheim konnten Passanten auf dem Touchscreen einer Ampel das Computerspiel Pong spielen, um die Wartezeit zu überbrücken. In einer Moskauer Metrostation konnten Fahrgäste ein kostenloses U-Bahn-Ticket lösen, wenn sie vor dem Verkaufsautomaten 30 Kniebeugen innerhalb von zwei Minuten schafften. Und in Santiago de Chile wurde an einer U-Bahn-Station eine Pianotreppe installiert, jede Stufe eine Klaviertaste, die beim Treppensteigen Musik abspielte, um die Menschen zu Bewegung zu animieren.

Die Idee der Playable City war ursprünglich als Gegenentwurf zur hyperregulierten Smart City imaginiert worden: beim preisgekrönten Projekt "Hello Lamp Post" in Bristol konnten Fußgänger mit Objekten wie Straßenlaternen oder Hydranten per Textnachricht kommunizieren und das Straßenmobiliar zum Leben erwecken. Was man tun musste, war eine SMS mit der Objektkennung an einen Zentralserver zu schicken. Das Objekt "meldete" sich dann per SMS. Zum Beispiel: "Hallo Mensch, wie schlecht ist Ihre Handschrift?" Die nächste Person, die an dem Objekt vorbeikam und sich einloggte, erfuhr etwas über die vorherigen Antworten.

Dank Gamifizierung: Überwachung als lustiger Zeitvertreib

Das Projekt war interessant, weil hier nicht wie im Internet der Dinge Maschinen in einem geschlossenen Ökosystem miteinander kommunizierten, sondern der Bürger in einen Dialog mit der Stadt, ihren Bewohnern und Geräten trat. Die Stadt wurde zum Experimentierfeld für Cyberflaneure, ein geografisches Tagebuch, das sich laufend lesen ließ.

In Großbritannien organisierten Bürgerrechtsaktivisten 2004 eine Schnitzeljagd ("CCTV Treasure Hunt"), um das Überwachungsnetz auf einer Karte zu visualisieren. Eine Art spielerische Gegenüberwachung. Und in Tel Aviv verwandelte sich die Fassade der Stadtverwaltung in ein Display: Passanten konnten auf der Außenwand Tetris spielen. Doch das Spielerische ist oft nur ein Vehikel, um Überwachungssysteme im urbanen Raum zu installieren und Verhaltensweisen zu steuern.

Der Südtiroler Verkehrsverbund Sasa hat vor zwei Jahren ein System eingeführt, bei dem Fahrgäste für mit dem Bus gefahrene Kilometer Punkte erhalten können. Dazu wurden Busse und Haltestellen mit Transmittern ausgestattet, welche den Fahrgästen mit der Nahfunktechnologie Bluetooth Einladungen zu Challenges aufs Handy schicken, zum Beispiel, mindestens einmal mit einem Brennstoffzellenbus zu fahren oder eine gewisse Anzahl an Kilometern mit dem Bus zurückzulegen. Ein- und Ausstiegspunkte der Teilnehmer sowie die Zahl gefahrener Kilometer werden genau erfasst. Die Teilnehmer können ihren Status ("Anfänger") und Punkte in sozialen Netzwerken teilen. "Das Fahren mit der Sasa wird zum Spiel", wirbt das Verkehrsunternehmen.

Es ist zu bezweifeln, ob Gamifizierung ein probates Mittel ist, die drängenden Probleme von Städten wie Luftverschmutzung, Stau, Pendlerstress, steigende Mieten zu lösen. Gewiss können Spiele einen Anreiz schaffen, langsamer zu fahren. Das Problem der Gamifizierung ist, dass es häufig falsche Anreize setzt. Beim Pac-Man-Spiel von Waze waren Nutzer geneigt, einen Umweg zu fahren, um eine Belohnung einzuheimsen. Das ist nicht nur verkehrstechnisch, sondern auch ökologisch Unfug.

Alissa Walker kritisierte im US-Magazin Curbed, dass die Idee, den Verkehr in ein Spiel zu verwandeln, nicht nur deshalb gefährlich sei, weil es zu waghalsigen Manövern und Ablenkung am Steuer verleite, sondern auch die Vorstellung verfestige, Dinge wie den Verkehr "schlagen" zu können. Das Stadtgeschehen als Computersimulation: Man muss nur genügend Punkte sammeln, dann ist die Mission erfüllt. Dass der dem Menschen inhärente Spieltrieb sich auch für autoritäre Zwecke instrumentalisieren lässt, ist den meisten oft nicht klar. In China erhält jeder Bürger ab 2020 einen Social-Credit-Score, der in Abhängigkeit des Konsum- und Kommunikationsverhaltens steigt oder fällt. Durch die Gamifizierung fühlt sich Überwachung wie ein Spiel an. Ein perfider Trick.

Unter Ausnutzung psychologischer Schwächen werden Gruppen in gewünschte Richtungen gelenkt. Der Internetpionier Jaron Lanier warnt in seinem Buch "Zehn Gründe, warum du deine Social Media Accounts sofort löschen musst" vor "Verhaltensmanipulations-Imperien", die Menschen mit perfiden Anreizsystemen konditionieren. Die Playable City ist auch ein Experimentierfeld für die Kontroll- und Steuerungsfantasien von Entwicklern, die ihre eigenen Spielregeln aufstellen. Man muss aufpassen, dass Städte nicht zum Labor großtechnischer Manipulationen werden, in denen Bürger bloß noch Steuerungsobjekte sind. Sonst könnte es am Ende heißen: Game over.

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