Auf der Suche nach neuen Stoffen, nach immer neuen Thrills und Sensationen, graben die Schöpfer der Marvel-Comicverfilmungen immer tiefer in den Nischen des Fundus. Figuren wie Venom und jetzt Morbius lassen die Doppelexistenzen von Peter Parker/Spider-Man oder von Bruce Wayne/Batman geradezu harmlos aussehen. Immer schwerer wird es, die nächtliche Seite der Existenz zu kontrollieren, immer ähnlicher werden die Helden ihren Antipoden.
Für den jungen Michael Morbius (Jared Leto) beginnt es mit der Sehnsucht nach der Flucht aus einem siechen Körper, der einer seltenen Blutkrankheit zu erliegen droht. Das ganze Leben von Morbius ist ein Balanceakt zwischen Leben und Tod. Alle paar Stunden muss das zerstörerische Blut gewaschen werden, damit er überleben kann. Seine Intelligenz macht ihn zum genialen, aber auch zu allem bereiten Wissenschaftler, einem "mad scientist". Gott zu spielen, hat für ihn existenzielle Dringlichkeit. So erschafft er aus dem Blut besonders aggressiver Fledermäuse ein Heilmittel, dessen Wirkung er nicht mehr kontrollieren kann.
Figuren zwischen Leben und Tod gehören zu den Lieblingsrollen des Hauptdarstellers
Dieser Balanceakt zwischen dem Glück einer Wiedergeburt und dem Grauen einer zerstörerischen Existenz ist genau die richtige Rolle für Jared Leto, der für solche immersiven Grenzgänge bekannt ist, seit er in seiner Oscar-Performance in "Dallas Buyers Club" als Rayon so beeindruckend zwischen den Geschlechtern und zwischen Leben und Tod oszillierte. Einen guten Verbündeten für solche Abenteuer hat er in dem schwedisch-chilenischen Regisseur Daniél Espinosa, für den die Comicverfilmung auch ein Grenzgang ist, zwischen der alten Filmwelt, aus der er stammt und der neuen in Hollywood, in der er als Genreregisseur erfolgreich wurde.
Es treibt ein Geisterschiff namens Murnau - Friedrich Wilhelm Murnau war der Schöpfer von "Nosferatu - Eine Sinfonie des Grauens", der schaurigen Stummfilm-Urversion des Kinovampirs - mit den ausgebluteten Leichen von acht Männern in der Nähe von New York auf dem Meer. Doch der Vampir, der das Gemetzel verursacht hat, stammt nicht aus einem Schloss in Transsylvanien, sondern aus dem New Yorker Labor von Dr. Michael Morbius.
Der ist entsetzt über sein eigenes Tun, zerrissen zwischen der Sehnsucht, sich stark und wie neugeboren zu fühlen, und den Schuldgefühlen, als unkontrollierbares Monster den Tod von Menschen zu verursachen. Während er mit den moralischen Implikationen seiner Erfindung hadert, wird Milo, sein Leidensgenosse und Freund aus Kindertagen, in diesem Prozess zum Antipoden, trunken von den unbegrenzten Möglichkeiten seines hochgetunten Körpers. Matt Smith hat sichtlich Spaß dabei, das Korsett von Etikette und Beherrschung, in das er als Prinz Philip in den ersten beiden Staffeln von "The Crown" gezwängt war, zu sprengen.
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Das hat das Potenzial einer tollen Geschichte, die bei Daniél Espinosa eigentlich in den richtigen Händen ist. Doch dieses Mal gelingt ihm die Balance zwischen alter und neuer Welt, zwischen europäischen Mythen und amerikanischem Genre nicht so sicher wie zuvor in "Kind 44", "Safe House" und "Life". Statt der Erdung in menschlichen Ängsten und Zweifeln zu vertrauen, lässt er sich hier von der heißen Luft der CGI-Power des modernen Kinos mitreißen. Vielleicht verließ aber auch seine Auftraggeber beim Sony-Studio der Mut, sich bei einer Mainstream-Produktion wirklich in die Abgründe der menschlichen Existenz fallen zu lassen.
Morbius , USA 2022 - Regie: Daniél Espinosa. Drehbuch: Matt Sazama, Burk Sharpless, Roy Thomas. Kamera: Oliver Wood. Schnitt: Pietro Scalia. Mit: Jared Leto, Matt Smith, Adria Arjona, Jared Harris, Michael Keaton. Sony, 104 Minuten. Kinostart: 31. März 2022.