"Monsieur Lazhar" im Kino:Kinder sind wie Schmetterlinge

Polemischer Kern ohne Gestus der Anklage: "Monsieur Lazhar" widmet sich den Traumata der Schulzeit. Wie so oft im französischen und frankokanadischen Kino, erzählt auch dieser Film von der Fähigkeit zu inniger Komplizenschaft mit Kindern. Mit seinem Film war Philippe Falardeau in diesem Jahr für den Oscar nominiert.

Rainer Gansera

Ich weiß, warum dir das Buch gefällt: der Wolf lässt sich freiwillig zähmen, aber im Innern bewahrt er sich seine Wildheit", erklärt Monsieur Lazhar (Mohamed Fellag) in seiner typisch gravitätischen Art der staunenden Alice. Die ganze Klasse - eine sechste Grundschulklasse in Montréal - staunt über Monsieur Lazhar, den aus Algerien stammenden Immigranten und Aushilfslehrer.

"Monsieur Lazhar" im Kino: Monsieur Lazhar (Mohamed Fellag) schafft es als Lehrer zu den traumatisierten Kindern durchzudringen.

Monsieur Lazhar (Mohamed Fellag) schafft es als Lehrer zu den traumatisierten Kindern durchzudringen.

Einerseits bevorzugt er in der Klasse den altmodischen Frontalunterricht und liest zum Diktat Texte von Balzac, die eigentlich ins Curriculum höherer Klassen gehören; andererseits spricht er nicht nur von Respekt und Vertrauen, er bringt beides den Kindern entgegen. Er liebt Literatur und Poesie, und es ist, als könne er magisch die Seelenlagen der Schüler erspüren. Er hat genau getroffen, was die elfjährige Alice an dem Wolfsbuch faszinierend findet.

Kinder wollen nicht verstanden werden, sie wollen, dass man sie liebt!", hielt François Truffaut einmal einem Pädagogen entgegen, der stolz die erziehungswissenschaftlichen Methoden des Kinderverstehens anpries. "Monsieur Lazhar", der vierte Spielfilm des Frankokanadiers Philippe Falardeau, erzählt von einem Verstehen, das nicht abstrakter Methodik, sondern liebevoller Zuneigung entspringt.

Zu den Tugenden des französischen wie des frankokanadischen Kinos gehört die Fähigkeit zu inniger Komplizenschaft mit Kindern. Schulklassenfilme wie "Entre les murs/Die Klasse" (Laurent Cantet, 2008) oder "Sein und Haben" (Nicolas Philibert, 2002) bezeugen das, Falardeau demonstriert es darstellerisch brillant mit seinem Drama, das in Locarno mit dem Publikumspreis und in Toronto 2011 als "Bester kanadischer Spielfilm" ausgezeichnet wurde.

Monsieur Lazhar" beginnt mit einem Schock: Simon, Schüler der sechsten Klasse, entdeckt, dass sich die Lehrerin Martine im Klassenzimmer erhängt hat. Die Direktorin (Danielle Proulx) reagiert verwirrt und hilflos. Sie lässt die Wände des Klassenzimmers neu streichen, ruft die Schulpsychologin herbei, nimmt das Angebot des 55-jährigen Lazhar, als Aushilfslehrer einzuspringen, dankbar an. Während die Maßnahmen von Direktorin und Kollegium (vom Sportlehrer abgesehen nur Lehrerinnen) wie Versuche der Verdrängung erscheinen, gelingt es Lazhar, Kontakt zur Klasse zu finden. Er gibt den Kindern Raum, ihre Empfindungen der Trauer und Verstörung zur Sprache zu bringen.

Der Suizid ist ein Tod, der bei den Hinterbliebenen die Suche nach eigener Schuld in Gang setzt. Dieses Thema spielt Falardeau, einem Theaterstück von Évelyne de la Chenelière folgend, dramatisch packend durch. Der kleine Simon glaubt, er habe die Lehrerin in den Selbstmord getrieben. Er war ihr "Lieblingsschüler", und als sie ihn einmal tröstend in die Arme nahm, hat er das der Schulleitung "gepetzt".

"Die Erwachsenen sind traumatisiert, nicht wir Kinder!"

Das In-die-Arme-nehmen gilt als pädagogisch-politisch äußerst inkorrekt. Vorsichtig kann Lazhar Simon aus der Falle der Schuldgefühle herausholen, er versteht den Jungen, weil er in seiner eigenen Lebensgeschichte mit Trauer und Schuldgefühlen konfrontiert ist.

Monsieur Lazhar" hat einen polemischen Kern, der jedoch ohne den Gestus der Anklage vorgetragen wird. Wie sein Titelheld geht der Film davon aus, dass Schulleiterin und Kollegium die besten Absichten hegen, aber der Situation nicht gewachsen sind. Man verschanzt sich hinter Richtlinien und Experten und weicht der Verantwortung aus. Lazhar stellt sich, und die Erzählung folgt seiner Sensibilität im empathischen Blick auf die Kinder. Auf den dicken Jungen, der immer gehänselt wird, aber den entscheidenden Satz ausspricht: "Die Erwachsenen sind traumatisiert, nicht wir Kinder!" Oder auf die tief fühlende Alice, die es wagt, den Selbstmord als einen "Akt der Gewalt" gegen die Klasse zu bezeichnen.

Für Lazhar sind Kinder wie Schmetterlinge, die im Puppenstadium darauf warten, ihre Schönheit zu entfalten und davonzufliegen. Sie empfinden tiefer und wahrhaftiger als viele der Erwachsenen. Lazhar sieht Kinder wie Erich Kästner in seinen Kinderromanen. Er weiß, dass sie "dem Guten noch nahe sind wie Stubennachbarn", und vergisst niemals, "wie traurig und unglücklich Kinder sein können".

MONSIEUR LAZHAR, Kanada 2011 - Regie: Philippe Falardeau. Buch: Philippe Falardeau, nach dem Theaterstück "Bachir Lazhar" von Évelyne de la Chenelière. Kamera: Ronald Plante. Schnitt: Stéphane Lafleur. Musik: Martin Léon. Mit: Mohamed Fellag, Sophie Nélisse, Émilien Néron, Danielle Proulx, Brigitte Poupart, Louis Champagne, Gaston Jules Philip. Arsenal, 94 Minuten.

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