"Luna Luna", das zweite Buch der 1984 in Überlingen geborenen Lyrikerin Maren Kames, ist ein dunkler Text, und das kann man, wie so ziemlich alles in ihm, sehr, sehr wörtlich und sehr, sehr metaphorisch zugleich verstehen. Schlägt man das Buch auf, blickt man vor allem auf Finsternis - die Buchstaben weiße Leuchtpunkte auf einer ansonsten rabenschwarzen Seite. Auch was das Textverständnis angeht, sieht es oft nicht viel klarer aus. "in meinen gloriöseren tagen bin ich ziemlich / lunar gewesen", heißt es an einem der zahlreichen Anfänge, die dieses wild ausufernde Langgedicht anbietet, und bald ahnt man, dass es mit dieser Mondsucht noch lange nicht vorbei sein kann. Denn der Mond ist der Fixstern in dieser wagemutigen Sound-, Bild- und Gedankenfantasie, die zwar keine große Geschichte erzählt, aber dafür ihre eigene, herrlich verspulte Miniaturwelt entwirft.
"Da ist jemand in meinem Kopf, aber das bin nicht ich", scheint sich das lyrische Ich im fortlaufenden Selbstgespräch zuzuraunen. Und so formieren sich mit der Zeit die fremden Stimmen und Stimmchen zu Figuren, deren liebenswürdige Wiederkehr ein wenig Ordnung ins Chaos bringt: eine kurzlebige Gans aus Pappmaché, das dichtende "mödchen" mit den zerzausten Haaren, die Großmutter, die sich nur noch ans Dunkel erinnert, oder die Geisha, die auf besonders leisen Sohlen durch Kames' Textuniversum trippelt.
Aber was heißt hier schon Figuren? Am ehesten erinnern diese Gestalten an Julio Cortázars Cronopien, die sich dadurch auszeichnen, dass sie zum Schreiben nie liniertes Papier benutzen und die Zahnpastatube nicht fein säuberlich von hinten nach vorne ausdrücken. Mitten unter diese formlosen Wesen mischt sich dann auch der geheime Hauptdarsteller dieses Textes, einer, der in keinem vernünftigen Weltentwurf, ob Kosmos oder Chaos, fehlen darf - der Teufel.
In "Luna Luna" hört er auf seinen semitisch-osmanischen Rufnamen "sheitan", tut und sagt allerlei sinnloses Zeugs, lässt aber auch immer wieder Tiefsinniges durchblicken, etwa so: "das paradox der liebe, ist, dass sie nur im innenraum gedeihen kann." Spätestens hier offenbart sich Kames als lunar-lunatische Nachfahrin der Romantik, die, ausgerüstet mit ihrem Raumanzug aus "Hyperherz" und "Turboinstinkt", durch die Mondlandschaft der Sprache stapft. Überall Krater, anorganischer Staub und immer wieder zieht es einen hin zur anderen, dunklen Seite des Mondes.
Schädelmagie und Sphärenmusik, angereichert mit einer ordentlichen Prise Brain Damage
Wie der eingangs zitierte Satz stammt auch der sheitan aus dem wichtigsten außerliterarischen Textgenerator von "Luna Luna", aus mehr oder weniger falsch abgehörten Popsong-Texten, sogenannten "misheard lyrics". Durchgehend begleiten den Text schräg übersetzte Fragmente aus Tracks von Tom Waits, Bon Iver, Janelle Monáe oder Annie Lennox, die am Ende auch selbst als Figur in die Textlandschaft wandert. Und unter dem melancholischen Stern von Nick Drake färbt sich der Mond nach und nach pink und taucht das Ganze in eine ästhetische Atmosphäre, die man auf der Suche nach einer passenden Gattungsbezeichnung als Popcore bezeichnen könnte.
Denn auch wenn der Mittelteil des Textes gekonnt auf einen unbestimmten Kriegsschauplatz und damit in ein ernsteres Register blendet, die wichtigste Qualität des Gedichts besteht doch in jenem unbestimmten Driften an der Oberfläche, das Popkultur ausmacht und in dem die Pose letzten Endes wichtiger ist als die Musik. Zugegebenermaßen treibt es Kames zuweilen arg weit mit ihren aus den Song-Verhörern heraussprudelnden Textkaskaden, und nicht wenige ihrer phonetischen Wutausbrüche rütteln etwas zu verkrampft an den Grenzen der Sagbarkeit. Auf der anderen Seite werden die Leser so dazu aufgefordert, mal wieder den überreizten Wirklichkeitssinn auszuschalten, um sich ganz auf den Genuss der einzelnen Sätze, Wörter und Sounds konzentrieren zu können.
Einen der schönsten dieser Sätze liest man gegen Ende des Textes: "zwischen schlaf und wachsein / liegt der schwachsinn / und lacht." Wie so vieles ist auch das eine ziemlich gute Selbstbeschreibung dieses fulminanten Langgedichts: Schädelmagie und Sphärenmusik, angereichert mit einer ordentlichen Prise Brain Damage. "Man muss ja mit jedem Text neu sprechen lernen" - so beschrieb Kames selbst den Anspruch an ihre Kunst am Abend der Buchvorstellung im Berliner Kultur-Krematorium Silent Green.
Dem realistischen Roman obliegt es, ein möglichst vollständiges, farbiges Bild seiner Zeit zu zeichnen. Eine der wichtigsten Aufgaben der Lyrik ist es hingegen, nicht nur über die Welt zu sprechen, sondern die Sprache allererst für das Sprechen aufzubereiten. Nicht selten arbeitet gute Lyrik dabei auch gegen die Sprache und tut ihr Gewalt an.
Doch wie sich aus einer Fußnote herauspicken lässt, ist der sheitan, der in Maren Kames' teuflischem Sprachexperiment steckt, kein Geist, der stets verneint, sondern einer, der immer nur aber sagt. So löst sich der Sinn in "Luna Luna" nie ganz auf, auch wenn er gegen Ende immer weiter auseinanderzudriften droht. Wer sich aber traut, ihm nachzudriften, findet ihn vielleicht dort wieder, wo viele ihn am wenigsten erwarten - auf der anderen, der dunklen Seite des Mondes.