Moderne Musik:Präzise, aber radikal

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Der niederländische Komponist Louis Andriessen wird 80 Jahre alt. Ein Besuch bei ihm zu Hause in Amsterdam.

Von Franziska Dürmeier

Sie machten Lärm. Viel Lärm. Immer dann, wenn der Dirigent ansetzte, klickten sie penetrant mit kleinen Fröschen aus Blech. Irgendwann wurden sie zwar aus dem Konzertsaal geworfen. Sie beeinflussten mit dieser Aktion dennoch die niederländische Musikgeschichte: Im Jahr 1969, als der Protest gegen autoritäre Strukturen und das Rückwärtsgewandte entfacht war, reichte es auch ein paar jungen Komponisten in Amsterdam. Als selbst ernannte "Notenkraker", übersetzt Nussknacker, lehnten sie sich lautstark gegen die aus ihrer Sicht hierarchischen und antidemokratischen Strukturen des Concertgebouw-Orchesters auf und forderten ein moderneres Musikprogramm. Unter den Notenkrakern war auch Louis Andriessen.

Fünfzig Jahre später sitzt Andriessen in den vordersten Reihen des Grote Zaal im Muziekgebouw, dem noch recht jungen Amsterdamer Konzerthaus für zeitgenössische Musik, und hört seine eigenen Kompositionen. Dam dam, Pause. Dam dam, Pause. Laut, kurz und energisch sind die Töne. Laute Saxofone, verstärkte Bassgitarren und Congaschläge. Zwei Musikergruppen stehen sich gegenüber, die Instrumentierung ist gespiegelt, jeweils Panflöte, Saxofon, E-Bass, Congas, Piano, E-Piano. Wenn eine Gruppe spielt, pausiert die andere. Der Wechsel erfolgt von Note zu Note im hohen Tempo und mit plötzlichen Rhythmuswechseln. Ein hypnotisches, stoisch-diszipliniertes Hin und Her. Statt eines Dirigenten signalisiert einer der beiden Congaspieler mit hochgestrecktem Arm die Wechsel. Jeder Musiker ist gleich wichtig. Sie spielen zusammen und doch gegeneinander. Eine heftige Auseinandersetzung, und zugleich ein harmonisches Miteinander.

Auf einer Leinwand zucken geometrische Visuals synchron zur Musik. Zum Schluss steht der ganze Saal und klatscht. "Hoketus" (1976) heißt die kraftvolle Performance, die neben dem zarten "Dances" (1991) und dem mysteriösen "La Passione" (2002) das viertägige Musikfestival für und mit Louis Andriessen, der gerade 80 Jahre alt geworden ist, eröffnet.

Am Tag nach der Festivaleröffnung lädt der Komponist zu sich nach Hause ein, in ein schmales Backsteingebäude an der Keizersgracht. Eine steile Treppe führt in die oberen Stockwerke, wo Andriessens Werke entstehen. Er wartet an der Tür im zweiten Stock, doch man hört schon im ersten den scharfen Rhythmus, den er beim Warten auf das Holzgeländer trommelt. "Ich mache nur Musik", sagt er zur Begrüßung.

Er hasst banale Musik. Auf die Frage, was banal sei, sagt er, es habe mit Geld zu tun und zitiert seinen Vater: "Geld hat keinen Wert." (Foto: Marco Borggreve)

Andriessen stammt aus einer katholischen Musikerfamilie mit sechs Kindern. "Alle haben Musik gemacht. Mein Vater Hendrik war ein sehr guter Komponist und Organist." Auch sein Bruder Jurriaan wurde Komponist und Musiker. "Er ging in den Sechzigern in die USA, traf Strawinsky und war in der Filmszene aktiv. Er war sehr wichtig für das, was ich wurde." Jurriaan kam mit einer Sammlung von Jazzplatten aus den USA zurück, die seinen jüngeren Bruder nachhaltig prägten: "Vieles, was ich mache, kommt vom Jazz, von den Saxofonsoli aus den USA." Louis studierte bei seinem Vater Hendrik am Konservatorium in Den Haag, danach bei dem experimentierfreudigen Komponisten Luciano Berio in Mailand und Berlin. Im Jahr 1965 kehrte er schließlich nach Amsterdam zurück.

"Damals war ich politisch sehr aktiv", erzählt er. "Orchester - vergiss es!" Das Geld sei in die großen Orchester geflossen und die kleinen Gruppen seien von ihnen verschlungen worden, schimpft er. "Das war schlimm." Mit einer Gruppe von Freunden und Komponisten gründete er ein Komponisten-Kollektiv. Aus Protest gegen die konservative Tradition und die etablierte Ordnung in der klassischen Musik schrieben sie die Oper "Reconstructie" und lösten schließlich mit der Notenkraker-Aktion hitzige Diskussionen aus.

In Andriessens Ensembles und Kollektiven wird die Rolle von Musiker und Komponist fließend, jeder gestaltet mit, im Ensemble Hoketus gibt es keinen Dirigenten. Dahinter steht ein demokratischer Gedanke. Mit dem Bläserensemble De Volharding spielte er als Pianist 1972 auf der Straße oder am Hafen. Viele Mitglieder seien Jazzmusiker gewesen und politisch links, erzählt Andriessen. Inhaltlich ging es ihnen vor allem um Abgrenzung: "Wir wussten genau, was wir mochten und was nicht. Wir mieden banale Musik." Welche Musik genau hält er für banal? Andriessen hält kurz inne. Und sagt mit strengem Ton: "Es hat mit Geld zu tun." Er hält wieder inne. Und ergänzt: "Mein Vater war ein großartiger Mann. Er sagte: 'Geld hat keinen Wert'. Das war sehr profund."

Zwei gleiche Formationen, die gegen- und miteinander performen: Der "Hoketus"-Abend auf dem Amsterdamer Andriessen-Festival (Foto: Francoise Bolechowski)

Schon das Ensemble De Volharding setzte sich mit US-amerikanischer Minimal Music auseinander. Mit dem Stück "Hoketus" schließlich spann Andriessen die Musikform weiter. "Steve Reich, Philip Glass ... ich kannte sie alle gut", erzählt er. "Ich hatte Fragen zum Stil aus den USA und wollte die Antwort darauf geben - durch eine andere Wertigkeit der musikalischen Struktur. Ich nahm Noten heraus, fügte Noten hinzu." Diese Antwort sei bei "Hoketus" zu hören, das Stück sei komplexer als das der Amerikaner und nutze verschiedene Stilarten. Das gleichnamige Ensemble Hoketus gründete er 1976 als Studiengruppe für Minimal Music: "Wir spielten jeden Montagabend." Neben Minimal Music, Jazz und der Avantgarde zählt Strawinsky zu seinen Einflüssen. Aber auch Frank Zappa mit seinen virtuosen und ausgefallenen Kompositionen zog Andriessen in seinen Bann. Mit dem Stück "De Staat" gelang Louis Andriessen 1976 der internationale Durchbruch. Später arbeitete er auch mit dem britischen Filmregisseur Peter Greenaway zusammen.

In Andriessens Musik finden sich viele Referenzen und Gegensätze, die er subtil gegenüberstellt und vereint. Bei manchen Stücken denke man in den ersten 50 Minuten vielleicht, es sei langweilig, sagt er, aber dann werde man es verstehen. "Es muss sich entwickeln - wie eine Blume. Jedes Teil hat eine wichtige Bedeutung."

Mittlerweile komponiert Andriessen seit 60 Jahren, "ein Vollzeitjob". Er stehe jeden Morgen gegen 9 Uhr auf und beginne idealerweise um 11 Uhr mit der Arbeit. "Inzwischen höre ich aber nach vier Stunden auf." Komponieren sei ein bisschen wie Mathematik, fügt Andriessen noch hinzu.

Auch die musikalische Umsetzung bei der Festivaleröffnung durch das Asko / Schönberg-Ensemble ist präzise wie eine mathematische Gleichung. Präzise, aber radikal. Mal grob und dissonant, mal sanft und harmonisch. Andriessens Klangästhetik ist unverkennbar: Bläser, verstärkte Bassgitarren und Klaviere gehören zu seinen zentralen Instrumenten. Der spezielle Rhythmus, die ungewöhnlichen Harmonien, die Synkopen und Pausen - all das erzeugt eine besondere Energie und Spannung. Zum Abschied trommelt Louis Andriessen wieder auf dem Holzgeländer und spricht dazu im Rhythmus: "Ga ga gaga gaaa".

© SZ vom 12.06.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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