Süddeutsche Zeitung

Modefotografie:Magst du dich nicht vielleicht doch ausziehen?

Der Fotograf Bruce Weber soll - wie sein Kollege Mario Testino - männliche Models belästigt haben. In Hamburg wird nun eine Ausstellung mit Webers Bildern abgesagt. Ist das richtig?

Von Jan Kedves

Als Bruce Weber in einem Interview vor einigen Jahren gefragt wurde, ob er früher mal nackt posiert habe, sagte er: "Leider hat mich damals niemand gefragt. Ich hatte früher einen ganz ansehnlichen Körper, also hätte ich es vermutlich gemacht." In den Sechzigern, lange bevor er selbst zum erfolgreichen Mode- und Aktfotografen wurde, verdiente sich Weber, angezogen, ein paar Dollars hinzu, indem er für Fotografen wie Richard Avedon oder William Claxton Modell stand. Nacktheit sei für ihn nie eine große Sache gewesen, sagte er im Interview und sprach über die verletzliche Schönheit, die ein nackter Mensch für ihn habe. Häufig sei es so, dass Models, die er nackt fotografiert habe, sich 30 oder 40 Jahre später sehr darüber freuen würden, dass es diese Fotos gebe. Erinnerungen an die eigene Blüte, sozusagen.

Weber wurde in den Achtzigerjahren legendär für seine Anzeigen für Calvin Klein, insbesondere für die der Männerunterwäsche. Wurde es danach, mit wachsender Berühmtheit, leichter, Menschen nackt vor seine Kamera zu bekommen? "Nein, ich habe eher den Eindruck, dass die Leute heute nicht mehr so frei sind wie früher", antwortete Weber. "Früher wollten sie ihre Klamotten gar nicht mehr anziehen, heute ist es schwer, sie überhaupt zum Ausziehen zu bewegen."

Irgendetwas auf dem Weg von "Magst du dich nicht vielleicht wieder anziehen?" zu "Magst du dich nicht vielleicht doch ausziehen?" scheint sehr schiefgelaufen zu sein. Weber, 71, wird nun - am Wochenende in der New York Times und danach in einem Artikel auf der Branchen-Website Business Of Fashion - von mehreren männlichen Models vorgeworfen, er habe sich ihnen gegenüber während Foto-Shoots oder bei deren Vorstufen, den sogenannten Test-Shoots, nicht korrekt verhalten, sei sexuell übergriffig geworden. Von "Atemübungen" ist die Rede, mit denen Weber angespannte Models zur Lockerung und zum Ablegen des letzten Textils animieren wollte. Einige berichten, er habe ihnen ans Genital gegriffen oder es gestreift. Wie weit die Aufforderungen des Fotografen gingen, sich selbst zu berühren, wird aus den Erfahrungsberichten der Models nicht ganz klar, ob sie masturbieren sollten oder einfach ihren Atem spüren. Von Vergewaltigung ist nicht die Rede.

Auch Webers Kollegen, dem Fotografen Mario Testino, werden Übergriffe vorgeworfen

Expliziter noch wird es bei Mario Testino, dem zweiten Modefotografen, dem nun Übergriffigkeit vorgeworfen wird. Testino soll, so die New York Times, vor männlichen Models masturbiert haben und ihnen abseits von Sets an die Hose gegangen sein. Das Model Ryan Locke, das von Testino in den Neunzigern für eine Gucci-Anzeige fotografiert wurde, erinnert sich, Testino sei während des Shoots zu ihm aufs Bett und auf ihn drauf geklettert. Er habe gesagt: "Stell dir vor, ich bin das Mädchen, und du bist der Junge." Es ist möglich, dass Testino es dem heterosexuellen Model leichter machen wollte, für die Kamera den nötigen Schlafzimmerblick hinzubekommen. Auch dann wäre es mehr als ungeschickt gewesen. Es ist aber ebenfalls möglich, dass der Fotograf das professionelle Setting als Gelegenheit sah, dem nackten Mann nahezukommen.

Unbestritten ist, dass es in den Neunzigern in der Mode, vor allem bei Gucci, um Sex ging, genauer: um den Eindruck seiner ständigen Verfügbarkeit. Ryan Locke sagt, dass die Nacktheit selbst gar nicht so ein Problem gewesen sei. Aber er habe Testinos Verhalten als Anmache empfunden. Von Vergewaltigung spricht er nicht.

Konsequenzen gibt es längst: Der Verlag Condé Nast, der unter anderem Vogue herausgibt, will mit beiden Fotografen vorerst nicht mehr zusammenarbeiten. Die aktuelle amerikanische Vogue mit der Tennisspielerin Serena Williams und ihrem Baby auf dem Cover, fotografiert von Testino, darf noch am Kiosk bleiben. Die Modemarken Ralph Lauren und Burberry haben das Ende ihrer Zusammenarbeit mit Testino verkündet.

Auch in Deutschland haben die Vorwürfe Folgen: Ingo Taubhorn, Kurator am Haus der Photographie in den Hamburger Deichtorhallen, arbeitete seit drei Jahren an einer Überblicksausstellung über das Werk von Bruce Weber, mit Fotos aus mehr als 40 Jahren, teils aus eigenem Bestand, weil F. C. Gundlach, der Gründungsdirektor des Hauses, in den Achtzigerjahren viel Weber sammelte. "Far From Home" sollte die Schau heißen, sie war für Herbst 2018 bereits angekündigt. Jetzt sagt Taubhorn: "Auf Eis gelegt."

Dabei hat er durchaus Zweifel, ob diese Entscheidung richtig ist. Man wisse derzeit zu wenig darüber, was an den Anschuldigungen dran sei, sagt er. Andererseits macht er sich keine Illusionen darüber, was los wäre, würde er Webers Fotos zeigen. "Man kann doch keine Ausstellung machen, wo man dann gar nicht mehr über die Kunst redet, sondern nur noch darüber, was in den Köpfen drin ist", sagt Taubhorn - und meint damit die Kombination aus Empörung, Fantasie, Sensationsgier und Moral, die sich "wie ein Schleier" vor das Werk und dessen Wahrnehmung lege. So ein Schleier kann wieder verfliegen, aber das brauche Jahre. "Was zwischen Picasso und seinen Modellen abgelaufen ist, danach fragt niemand", meint Taubhorn.

Es sind die bekannten Fragen: Wo ist Kunst vielleicht doch nur Kunst? Wo muss man sie vom wahren Leben womöglich trennen - beziehungsweise: vom imaginierten wahren Leben, denn man war ja nicht dabei. Dass Bruce Webers Bilder häufig nicht nur gute Fotografie sind, sondern Kunst - auch dann, wenn sie zu kommerziellen Zwecken entstehen -, daran besteht kein Zweifel. Bei Testino, der aus Peru stammt und berühmt dafür wurde, dass er 1997 das letzte Porträt von Lady Diana vor ihrem Tod fotografierte, erscheint die Bewertung schwieriger. Seine Fotos wirken oft etwas gefallsüchtig, bis zur totalen Künstlichkeit mit Photoshop bearbeitet. Das muss nicht bedeuten, dass sie keine Kunst sind, aber wer sie ansieht, denkt selten: So etwas habe ich noch nie gesehen. Bei Testino sehen die Models, Männer wie Frauen, noch ein bisschen praller und makelloser aus.

Wurde die amerikanische Gesellschaft prüder? Oder wurde Weber übergriffiger?

Bruce Weber hingegen hat in den Achtzigerjahren seine eigene, neue Ästhetik geprägt: nackte Athleten in Schwarzweiß, in ihre eigene Körperlichkeit verliebt, ganz ohne Scham. Nicht pornografisch, es gab keine Erektionen, keine Küsse. Stattdessen Muskeln, Schatten, gemeißelte Silhouetten. So etwas hatte man vielleicht bei Leni Riefenstahl gesehen, aber bei Weber verband es sich mit dem Körper- und Fitness-Bewusstsein der Achtziger und mit einer Andeutung von Sex. Webers Bilder hatten etwas Emanzipatives, Politisches. Man unterstellte den Fotos einen homoerotischen Blick oder schwules Verlangen, wurde dann aber doch von der Tatsache irritiert, dass Weber seit den Siebzigerjahren verheiratet war. Seine Frau ist die Filmproduzentin Nan Bush.

War diese Ehe ein altmodisches Arrangement zwischen einem verkappten Schwulen und seiner Alibi-Frau? Oder hatten Weber und Bush - was fortschrittlicher gewesen wäre - ihre eigene, ganz unkomplizierte Art gefunden, mit den Sensibilitäten des anderen umzugehen? Genau diese Offenheit, man könnte sagen: diese Unentschiedenheit machte Webers Fotos jedenfalls so stark.

Nur scheinen, wie Weber ja selbst zugibt, manche Models gar nicht so freiwillig mitgemacht zu haben, wie man es auf den Fotos zu erkennen glaubte. War die Nacktheit, die Weber für ganz unproblematisch hielt, für einige doch ein Problem? Wurde die Gesellschaft in den USA prüder? Oder wurde Weber übergriffiger? "Ich habe Jahre gebraucht, um zu verstehen, dass das nichts mit Sex zu tun hatte. Es war ein Kunst-Ding", sagt Alex Geerman, der 2008 von Weber fotografiert wurde und auf Business Of Fashion über Webers "Atemübungen" spricht. Geerman stehen die anderen Models gegenüber, denen es sehr unangenehm war, für Weber nackt in ihre Chakras hinein zu atmen, und es anscheinend nicht wagten, Nein zu sagen, als er seine eigene Hand auf ihren Körper legte.

Die "Me Too"-Debatte hat die Modewelt erreicht. Aber helfen Verträge vor dem Foto-Shooting?

Was macht man mit all diesen Informationen? Alles absagen, nichts mehr anschauen? Die Schampuslaune vergessen, die 1990 aus Bruce Webers' Musikvideo für den Pophit "Being Boring" der Pet Shop Boys sprudelte? Seinen Dokumentarfilm "Let's Get Lost" über den Jazz-Trompeter Chet Baker, 1988 für einen Oscar nominiert, nie wieder zeigen? Seinen neuen Film "Nice Girls Don't Stay For Breakfast" über den Hollywood-Haudegen Robert Mitchum und dessen Zweitkarriere als sanfter Jazz-Crooner nicht auf Festivals einladen? Das wäre absurd. Aber es scheint gut möglich zu sein, dass es so weit kommt.

Die "Me Too"-Debatte begann vor einer Weile damit, dass sie die sexuelle Ausnutzung von Machtunterschieden anprangerte, zwischen Männern in hohen Positionen und Frauen, deren Karriere vom Wohlwollen dieser Männer abhängt. Diese Debatte kommt nun auch in der Mode an, und bei den Männern. Das ist gut.

Sicher kann man sich fragen, wieso männliche Models überrascht sind, wenn sie sich bei einem berühmten Akt-Fotografen ausziehen sollen. Man kann aber auch fragen, ob es unverantwortlich von einer Modelagentur war, diese Männer zu diesem Fotografen zu schicken. Aus dem Text in der New York Times geht hervor, dass hinter den Kulissen der Industrie schon seit Jahren getuschelt wurde, und ja, dass manche Agenten anscheinend nach dem Motto handelten: Da musst du durch.

Zu begrüßen ist es deshalb, dass in der Modeindustrie nun die Rufe nach einer Model-Gewerkschaft lauter werden. Sie könnte Regeln festlegen, was Fotografen dürfen und was nicht, was Agenturen leisten müssen. Vor allem könnte sie Models ermutigen, selbstbewusster Grenzen zu ziehen, und sie könnte sie in Streitfällen vertreten.

Allerdings kann man sich nur mit einiger Mühe vorstellen, wie praktikabel die geforderten Nacktheitsverträge sein sollen. Wenn Nacktheit nichts Beiläufiges oder Situatives mehr hat, sondern vor einem Shoot schon unterschrieben sein muss. Der Traum vom befreiten Körper, den Bruce Weber und Mario Testino in ihren Bildern träumten, er scheint ausgeträumt zu sein. Sollten dadurch weniger Models in übergriffige Situationen kommen, ist das gut. Nur: Wird sich ein Model, das sich für einen Test-Shoot ausgezogen hat, nachdem es vorher schriftlich zugestimmt hat, nicht noch komischer fühlen, wenn es den großen Auftrag danach - aus welchem Grund auch immer - trotzdem nicht bekommt? Dann wäre die Verletztheit eine andere, und es gäbe darüber wenigstens einen Vertrag. Na ja.

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Quelle:
SZ vom 18.01.2018/khil
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