Süddeutsche Zeitung

Mode in den 90ern:Schulterpolster ade

Fotografen, Stylisten und Models brechen nach der Wende mit steifen Traditionen. Über eine Zeit, in der das Unvollkommene eine ganz neue Bedeutung bekommt.

Von Lisa Kannengießer

"I've been looking for freedom", so schallt es in der Silvesternacht 1989 über den Platz vor dem Brandenburger Tor. Über den Köpfen von Hunderttausenden Zuhörern singt David Hasselhoff in blinkender Lederjacke den Song, der die Berliner Mauer sprichwörtlich zum Einsturz gebracht haben soll. Bei dieser Version der Geschehnisse hätte der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl wohl heftig den Kopf geschüttelt. Nein, es brauchte schon ein wenig mehr, als bloß ein Lied zu trällern. Dennoch gab Hasselhoff der deutschen Wiedervereinigung eine Hymne, eine Stimme. Eine Mauer war gefallen, weitere sollten buchstäblich folgen. Eine Zeit voll von Unbeschwertheit, Natürlichkeit und Rebellion war angebrochen.

Das zeigt sich auch in der Mode, die den Zeitgeist reflektiert. Es heißt: Ade Schulterpolster, Puffärmel, Goldknöpfe, Aerobic Body - hallo Neunzigerjahre. Kleidungsstile werden wild gemischt - Haute Couture mit Denim, Leder mit weiten Röcken. Es ist auch die Zeit außergewöhnlicher Fotografinnen und Fotografen, die festhalten, was Mode in dieser Zeit bedeutet. Unter ihnen befanden sich Ellen von Unwerth, Juergen Teller und Peter Lindbergh. Gemeinsam war ihnen, dass sie zwar Wert auf Ästhetik legten, doch die Individualität der Models hervorhoben.

War man in den Achtzigerjahren noch vom perfektionistischen Glamour und klischeehaften Posen besessen, werden nun Models gebucht, die nicht mehr nur als namenlose Kleiderständer auftreten. Plötzlich sind vor allem interessante und schillernde Charaktere gefragt. Das Phänomen Supermodel ist geboren, zu den wichtigen Protagonistinnen zählen Kate Moss, Tyra Banks und Claudia Schiffer. Mit ihnen wagen sich Fotografinnen und Fotografen auf neues Terrain. Sie fangen in ihren Aufnahmen die Emotionen der Models ein und stellen sie sogar ohne Make-up vor die Kamera. Natürlichkeit, Unvollkommenheit und Alltäglichkeit bekommen eine gänzlich neue Bedeutung. Modefotografie wird gewagter denn je, persönlicher denn je.

Ein 1995 entstandenes Bild zeigt eine Kate Moss, die vor einem gut bestückten, offenen Kühlschrank kniet. In der linken Hand eine Flasche Milch, mit der rechten wischt sie sich den Mund ab. Bekleidet ist sie nur mit einem perlweißen Spitzennachthemd und einem hellbraunen Mantel. Es ist eine Inszenierung, aber auch ein vertraulicher Moment, der von starker Intimität zwischen Fotograf und Model zeugt. Aufgenommen hat ihn die deutsche Modefotografin Ellen von Unwerth, die für ihre ebenso spielerische wie verführerische Bildsprache bekannt ist.

Das Geschehen hinter den Kulissen wird interessant

Intimität spielt ebenfalls eine große Rolle in der Backstage-Fotografie, die in den Neunzigerjahren populär wird. Umziehen, Probe laufen und Schminke auflegen sind nun Motive in Kampagnen und Editorials. Der Blick hinter die Kulissen der Modebranche fasziniert und lässt die Models realitätsnäher wirken. Fotograf Juergen Teller setzt auf Reduktion. Sein Motto lautet "Weniger ist mehr", weshalb er seine Bilder minimalistisch hält. Jeans und ein unaufgeregtes weißes Tanktop - mehr braucht es nicht, um ein Gefühl für Mode zu transportieren . Der vor zwei Jahren gestorbene Fotograf Peter Lindbergh fügt dem Ganzen eine zeitlose und filmische Ästhetik hinzu. Er stellt Models kaum geschminkt und in einfarbigen Outfits vor die Kamera oder inszeniert Gruppenbilder, die ein Gefühl von Selbstbestimmtheit und Rebellion vermitteln. Respektvoll ist er mit den Models umgegangen, heißt es. Seine Bilder erzählen authentische Geschichten im Schwarz-Weiß-Format.

Auch der Lack blättert, Stile wie Grunge und Heroin-Chic kommen auf. Die Models zeigen blasse Haut, dunkle Augenringe, ausgemergelte Gesichtszüge. Alles Merkmale, die mit Drogenmissbrauch assoziiert werden. Der peruanische Modefotograf Mario Testino stellt dazu vorwiegend androgyne Models vor die Kamera. Das wirft die traditionellen Vorstellungen von "sexy", Geschlecht und sexueller Orientierung über den Haufen.

Inzwischen haben Fotografien der Neunzigerjahre einen zeitlosen Charakter erreicht. Sie sind provokativ und regen dazu an, Schönheitsideale und Weiblichkeit zu überdenken. Frauen beginnen in dieser Zeit Kontrolle über ihre Sexualität zu erlangen und werden selbstbestimmter. Ihre Körper, immer noch extrem schlank, werden weniger künstlich abgebildet, wirken realitätsnäher. Das macht sie zu willkommenen Vorbildern für viele junge Menschen. Auch werden Männer erstmals selbst Teil von Kampagnen und in der Folge sexualisiert.

Gleichzeitig werfen Fotografen und Fotografinnen die alten Konventionen zu einer Zeit über den Haufen, als Marken beginnen, sich global auszubreiten. Plötzlich pflastern ihre Aufnahmen die ganze Welt. Junge Designer und Stylisten kehren die Nähte geradezu von innen nach außen, während Art-Direktoren und Haar- und Make-up-Künstler erstmals in Erscheinung treten. Es ist eine Zeit voll furchtloser Kreativität. Mode, Musik, Unterhaltung und bildende Kunst verschmelzen miteinander - und gerade auf den Gruppenaufnahmen wachsen die Models über sich hinaus und werden zu Ikonen der Freiheit.

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