Süddeutsche Zeitung

Mode und Pop:Denn wir können es nicht wissen

  • Wenn die Popsängerin Billie Eilish für einen Auftritt ein Outfit braucht, stehen die größten Designer bereit - und weichen für Eilish gern von ihrer gewohnten Ästhetik ab.
  • Eilish hat für sich einen eigenen Look definiert - einen, der Luft zwischen Garderobe und Körper lässt.
  • Dass ihr Körper durch ihren Kleidungsstil gerade nicht zum Thema wird, ist eine, wenn auch nicht die einzig mögliche, emanzipative Position.

Von Jan Kedves

Ein Tweed-Kostüm in Sackform von Chanel für Billie Eilish? Kein Problem, das Atelier in Paris näht es bereits und verziert es noch mit Graffiti-Verschmierungen! Ein beutelartiges Strass-Ensemble in Schwarz und Giftgrün von Gucci für Eilishs Grammy-Auftritt? Aber selbstverständlich, der Kurier hat es in Mailand bereits übergeben bekommen! Oder ein riesiger Trenchcoat mit überweitem Nicki-Trainingsanzug in Burberry-Beige für die Verleihung der Brit Awards in London: längst fertig!

So in etwa geht es seit Monaten, wenn die momentan wichtigste Popsängerin der Welt, die 18-jährige Billie Eilish aus Kalifornien, für einen Aufritt ein Outfit benötigt. Dass Stars für den roten Teppich, bei Galas und Preisverleihungen aller Art von den teuersten Marken der Mode etwas Spezielles zur Verfügung gestellt bekommen, ist nicht außergewöhnlich. Im Falle von Eilish aber sind die Designer bereit, erstaunlich weit von ihrer bekannten Ästhetik abzurücken und, was die Schnitte und Silhouetten angeht, ganz zu vergessen, was für Frauen sonst bei solchen Anlässen gilt: Stoff sparen, Stoff sparen, Stoff sparen! Das ist bemerkenswert. Man könnte sagen, dass es im Pop gerade niemanden gibt, der mehr Mode-Macht hat als Billie Eilish.

Auf Instagram hat sie mittlerweile 56 Millionen Follower

Das liegt zum einen schlicht an den Zahlen - daran, dass Eilish, die im vergangenen Jahr ihr Album "When We All Fall Asleep, Where Do We Go?" veröffentlichte und jetzt den Song zum neuen Bond-Film "No Time To Die" singt, inzwischen ein Superstar ist, mit 56 Millionen Followern auf Instagram. Jemand wie sie hat Einfluss, auch in der Mode.

Wichtiger aber ist, dass Eilish für sich einen eigenen Look definiert hat - einen Look, der Luft zwischen Garderobe und Körper lässt. Eilish erklärt es so: "Ich habe keine Lust darauf, dass die Welt alles über mich weiß. Deswegen trage ich große, sackartige Kleider. Niemand kann eine Meinung haben, denn keiner hat gesehen, was drunter ist. Keiner kann sagen: Bäh, die ist dünn-dick, oder nicht dünn-dick, sie hat einen flachen Arsch, oder einen fetten Arsch. Keiner kann so was sagen, denn sie wissen es nicht." Eilish erklärte dies im vergangenen Jahr, im Alter von 17 Jahren, und zwar bezeichnenderweise nicht in einem Interview, sondern in einem Werbespot für eine Marke, die sonst bekannt dafür ist, die Körper attraktiver Stars immer noch ein bisschen nackter zu machen.

Von Calvin Klein dafür bezahlt zu werden, dass sie sich - im Gegensatz zu Werbestars wie Justin Bieber, den Kardashian- und Jenner-Schwestern, dem Rapper A$AP Rocky und vielen anderen - gerade nicht auszieht: Das schafft nur Billie Eilish. Sie trägt ihr eigenes Verständnis von Body Positivity in den Mainstream - und formuliert so eine Absage an die Sexualisierung ihres Körpers. Body Positivity, also positives Denken in Bezug auf seinen eigenen Körper, dieser Ansatz besagt ja, dass jeder Körper schön sein kann, ganz gleich ob er superdünn und durchtrainiert ist oder nicht. Niemand sagt, dass man die eigene Body Positivity nur dann feiern kann, wenn man den Körper öffentlich herzeigt. Billie Eilish feiert ihren eigenen positiven Körperbezug jedenfalls in Kleidern, die visuelle Informationen darüber verknappen, wo sich nun genau bei ihr welche Ausdehnungen in die dritte Dimension befinden. Sie hat damit eine nicht zu unterschätzende Vorbildfunktion für Teenager, für Pop-Fans und die Mode im Allgemeinen.

Bislang ist jedenfalls nichts darüber bekannt geworden, dass sie strikt religiös wäre, irgendeiner komischen Sekte angehört oder sonst wie verklemmt ist. Eilish hat einfach keine Lust darauf, zum Sexobjekt zu werden. Der Mobbing- und Slutshaming-Kultur, die im Internet herrscht, ist sie selbst schon zum Opfer gefallen, etwa als sie im Sommer 2019 einmal, ausnahmsweise, ein weißes Unterhemd trug. Paparazzi-Fotos davon gelangten auf Twitter. Der User, der die Fotos mutmaßlich hochgeladen hatte, nannte sie "thick", also "dick" oder - auch eine mögliche Übersetzung - "gut gebaut". Sofort war der Shitstorm da, zwischen denjenigen, die meinten, die 17-Jährige könne ihre Brüste doch ruhig häufiger mal zeigen, und denjenigen, die konterten, Eilish trage genau wegen solcher schmieriger Kommentare sonst nur Baggy-Klamotten. "Wie ich es mache, ist es falsch!", klagte Eilish daraufhin in einem Interview mit der Zeitschrift Elle.

Die Botschaft lautet: Jeder, also wirklich JEDER Körper ist schön

Eilish bedient sich für ihren Kleidungsstil bei der Hip-Hop- und der R'n'B-Kultur, und zwar bei deren Looks der mittleren und späten Neunziger (einer Zeit übrigens, in der sie selbst noch gar nicht geboren war). Damals trugen nicht nur die Männer im Rap superweite Hosen, die fast in die Kniekehle rutschten, und Kapuzenpullis, in die sie mindestens zweimal hineingepasst hätten. Auch die Frauen taten das. Wobei Stars wie die R'n'B-Sängerin Aaliyah oder das Trio TLC meist noch an der ein oder anderen Körperstelle doch Gelegenheit fanden, ein Stückchen Haut zu zeigen. Da wurde ein Sport-BH unter offener Baggy-Jacke getragen, oder unter dem eingekürzten Shirt blitzte im Sixpack der Bauchnabel hervor. Solche Momente betonten gerade den Kontrast zwischen der Baggy-Silhouette und der mutmaßlichen supertrainierten Sexiness des restlichen Körpers darunter.

Nur die Rapperin Missy Elliott ("Get Ur Freak On") machte damals nicht mit. Sie trug konsequent Raumfahreranzüge wie aus dem Comic und ihre legendären, Michelin-Männchen-artigen Ganzkörper-Pneus, die mit Luft extradick aufgepumpt wurden. Missy Elliott ist für Billie Eilish heute vermutlich ein wichtiges Vorbild. Aber auch an Lizzo könnte man denken. Die 31-jährige R'n'B-Sängerin aus Detroit schüttelt ihre Pfunde und preist sie in Hits wie "Juice" offensiv als Bonus.

Lizzo und Eilish könnten kaum unterschiedlicher aussehen. Und doch eint die beiden der Gedanke, dass sie selbst darüber entscheiden wollen, welches Verhältnis sie zum eigenen Körper haben, und vor allem: wie über ihn gesprochen wird. Lizzo tut dies, indem sie ihren Körper zeigt, Eilish, indem sie für sich eine Mode-Position definiert, in der ihr Körper gerade nicht zum Thema wird. Beides sind emanzipative Positionen.

Entsprechend warfen sich Eilish und Lizzo in London bei den diesjährigen Brit Awards begeisterte Blicke und gestisch ausladende "I love you!"-Komplimente zu - als seien sie gegenseitig ihre größten Fans. Beide machen fantastische Popmusik, und beide bilden mit ihren Selbstpräsentationen gerade die Avantgarde unter den weiblichen Popstars. In jedem Moment meint man ihnen anzusehen, wie viel Spaß ihnen das macht. Im Grunde bilden sie sogar einen Gegenentwurf zur traditionelleren Körperdisziplin im Pop à la Jennifer Lopez. Die führte zuletzt beim Superbowl in Florida stolz ihre 50-jährige Stahlfigur in knappster, transparentester Showpony-Garderobe vor. Gegen Training und die Konservierung des Eindrucks von Jugendlichkeit ist natürlich auch nichts zu sagen - schon gar nicht in der Logik der Körper-Positivität: Jeder Körper ist schön.

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Quelle:
SZ vom 26.03.2020/khil
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