Süddeutsche Zeitung

Mittelalter-Ausstellung in Köln:Der Drache steckt voller Details

Im Kölner Museum Schnütgen werden erstmals mehr als sechzig Schnitzereien des Meisters Arnt aus Kalkar am Niederrhein gezeigt.

Von Alexander Menden

Im Jahre 1484 orderte ein Bildschnitzer namens Arnt in Kalkar am Niederrhein vier Särge. Wir wissen von dieser Bestellung nur durch einen nüchternen Transaktionsbeleg, aber sie lässt einen schweren Schicksalsschlag erahnen. Arnt hatte einen Großteil seiner Familie an die gerade in Europa wütende Pest verloren. Womöglich war er sogar der einzige, der die Epidemie überstanden hatte.

Bemerkenswert ist diese Episode in zweierlei Hinsicht: Erstens gewährt sie einen persönlichen Blick auf das Leben dieses Künstlers, der in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts am Niederrhein und in den heutigen Niederlanden Altäre und Heiligenfiguren von erlesener Qualität schuf, und über den wir sonst sehr wenig wissen. Zweitens erinnert sie auf düstere Weise an die pandemischen Umstände, unter denen nun die erste monografische Ausstellung seines Werks zustande kam.

Jahrhundertelang wurden Arnts Schnitzereien verschiedenen Werkstätten zugeordnet

Ursprünglich für Anfang April angesetzt, konnte das Kölner Museum Schnütgen "Arnt der Bilderschneider - Meister der beseelten Skulpturen" nur mit coronabedingter Verspätung eröffnen. Als letztes Exponat kam gerade noch rechtzeitig eine exquisite "Beweinung Christi" aus dem Pariser Musée de Cluny in Köln an. Es ist aufgrund der erhaltenen Originalbemalung einer der Höhepunkte dieser Schau (die rotgolden gewirkten Brokatärmel am Kleid Maria Magdalenas wirken wie frisch gestickt); seine Figuren weisen einige für Arnt typische Charakteristika auf: die leicht hervortretenden Augenpartien, die etwas eingedellten Ohrläppchen, die abgespreizten Daumen betender Hände. Lange schrieb man diese Elemente einem Regionalstil zu, der zwischen Utrecht und Köln, Zwolle und Kleve gepflegt wurde. Dass es sich beim Schöpfer der rund 60 Stücke, die nun in Köln zu sehen sind, um ein und denselben Mann und seine Werkstatt handelte, war jahrhundertelang unbekannt.

Erst seit den 60er Jahren wurden die wenigen Werke, die ihm bis dahin zugeordnet waren - darunter Teile des gewaltigen Hochaltars von St. Nicolai in Kalkar - Stück für Stück um weitere Arbeiten zu einer geschlossenen Gruppe ergänzt. Nicht zuletzt aufgrund dieser späten Zuschreibung wohl ist Arnt - dessen Leben 1460 mit einem Auftrag für den Herzog von Kleve in Brüssel erstmals bezeugt ist und der im Dezember 1491 in Zwolle starb - kein Künstler, dessen Erwähnung sofort Assoziationen an die Blüte spätgotischer Bildschnitzerei weckt, wie das bei seinen jüngeren Zeitgenossen Tilman Riemenschneider oder Veit Stoß der Fall ist.

Der niederländische Kunsthistoriker Guido de Werd, ehemaliger Direktor am Museum Kurhaus in Kleve, hat die Zuschreibungsarbeit des Klever Kollegen und Arnt-Pioniers Friedrich Gorissen fortgesetzt, und nun auch die Kölner Schau mitkuratiert. Laut de Wert ist "Arnt Beeldesnider" in den Niederlanden eher ein Begriff als hierzulande. Der weit überwiegende Teil seines erhaltenen Oeuvres findet sich dennoch in Deutschland. Bei solchen Gelegenheiten macht sich bemerkbar, wie stark Demarkationslinien in Europa entlang konfessioneller Grenzen verlaufen. Alle Werke in den protestantischen Niederlanden fielen fast restlos dem dortigen Ikonoklasmus zum Opfer, die am katholischen Niederrhein überstanden den Bildersturm.

Eins der wichtigsten Referenzwerke für die Einreihung von Bildwerken ins Arnt-Oeuvre, die zwölf Heiligenfiguren am Chorgestühl der ehemaligen Klever Minoritenkirche St. Maria Empfängnis, kann in Köln nur als Foto-Reproduktion angesehen werden. In besonderer Vollendung zeigt das Ensemble die Fähigkeit dieses Bildschnitzers, auch ohne virtuellen Fluchtpunkt eine erstaunliche optische Tiefe zu erzeugen. Das erreicht Arnt hier und anderswo vor allem durch die Einbettung in einen architektonischen oder landschaftlichen Rahmen. In vollendeter Form verdeutlicht die "Anbetung der Könige" aus dem eigenen Bestand des Museums, frisch restauriert und jüngst um drei verloren geglaubte Teile ergänzt, diesen geradezu gemäldehaften Zugang zur Bildkomposition.

Restauriert hat das Museum Schnütgen anlässlich der Ausstellung auch den Georgsaltar aus St Nicolai in Kalkar. Im geöffneten Zustand fünf Meter breit, ist er das spektakulärste Exponat und steht exemplarisch für das narrative Talent und die Detailtiefe, welche Arnts Arbeiten auszeichnen. In seinem Zentrum ist der Kampf mit dem Drachen angesiedelt, der sich unter dem prächtigen Stadtpanorama Kalkars vollzieht. Der bedeutendere Teil der Legende ist jedoch Georgs Martyrium gewidmet. Dieses Pandämonium der Grausamkeiten entfaltet sich unter Meister Arnts Händen dergestalt, dass es den Blick durch seinen Reichtum an realistischen Einzelheiten bannt, ihn hierhin und dorthin zieht: Vor der Szene, in der Georg einen Giftbecher mit dem Kreuzzeichen unschädlich macht, liegt wie zufällig hingeworfen ein halber Hüftknochen. In der Darstellung seiner Enthauptung steht am Bildrand ein kleines Gatter. Es steht am Ende eines Weges, der sich diagonal von oben links nach unten rechts durchs Bild windet. Dort, wo eine Familie - stellvertretend für den frommen Betrachter - auf diesem Weg zur Pilgerfahrt aufbricht, ist er gepflastert, im weiteren Verlauf wird er zu einem Trampelpfad mit winzigen Fußabdrücken. Der Altar wird hier zum Wimmelbild.

Arnt beherrscht alle Dimensionen; unabhängig von ihrer Größe verlieren seine Skulpturen nie an Ernst, an geschmeidiger Lebendigkeit. Gerade Lebens- und überlebensgroße Heiligenfiguren, etwa der wie nebenbei einen Dämon bezwingende Antonius aus dem niederländischen Venray oder die monumentale Pietà aus St Markus in der Gemeinde Bedburg-Hau, sind von besonderer Ausdruckskraft. Seine Christusdarstellungen arbeitet Arnt individuell aus, das gilt besonders für die einzige archivalisch gesicherte Arbeit, einen in verstörend überzeugendem rigor mortis erstarrten Grabchristus aus Kleve.

Ans Ende haben die Kölner Kuratoren die Predella des Hochaltars von St. Nicolai gestellt. Die Fußwaschung Petri im äußeren rechten Gefach ist eine Apotheose personalisierender Figurengestaltung. Arnt fängt die Lebhaftigkeit des Gesprächs zwischen den Jüngern mittels kraftvoller Körperspannung und bewegter Mimik ein. Er ist eine gotische Entdeckung, dieser Bilderschneider vom Niederrhein, und sein Werk hätte man weder sachkundiger einordnen noch prächtiger präsentieren können, als es nun in Köln geschehen ist.

Arnt der Bilderschneider - Meister der beseelten Skulpturen im Museum Schnütgen, Köln, bis 20. September. Der Katalog kostet 45 Euro.

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Quelle:
SZ vom 01.07.2020
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