Süddeutsche Zeitung

Missbrauch in Schulen:Du sollst nicht begehren

Wer nichts übrig hat für Halbwüchsigkeit, kann kein guter Lehrer sein. Aber was ist eigentlich der "pädagogische Eros"? Nicht doch ein anderer Name für Pädophilie?

Albert von Schirnding

Von einem Lehrer, der nicht nur sein Fach, sondern auch seinen Beruf liebte und (vielleicht) den ein oder anderen seiner Schüler zu begeistern wusste, der gar einen Teil seiner Freizeit opferte, um mit den Schülern nach Rom oder Griechenland zu fahren oder mit den besonders Interessierten eine nicht im Lehrplan verordnete Lektüre zu behandeln, sagte man gern, er sei vom "pädagogischen Eros" erfüllt.

Das war ein positives Etikett, auch wenn in den Applaus sich da und dort ein Hochziehen der Augenbrauen mischte. Nach den zu Tage gekommenen Vorfällen von sexuellem Missbrauch in katholischen Internaten, aber auch anderswo steht dieser Eros unter Generalverdacht: Ist das nicht nur ein anderer Name für das momentan schlimmste aller Schimpfwörter: die Pädophilie?

Der Erfinder des "Eros paidagogikós" ist Platon; die Schrift, in der sein Wesen grundlegend und wirkungsmächtig dargestellt wird, ist das "Symposion". Bei einem Gastmahl in Athen im Jahre 416v.Chr. unterhalten sich Sokrates und seine Freunde über die Liebe. Das Gespräch ist typisch griechischerweise als Wettstreit angelegt: Wer die schönste Lobrede auf Eros hält, gewinnt. Natürlich schießt Sokrates den Vogel ab, doch auch die anderen Redner tragen im Sinne Platons Wichtiges bei. Fundamental ist die Unterscheidung zwischen einer "himmlischen" und einer "gemeinen" Liebe, die - für Platons Zeitgenossen unanstößig, für heutige Leser mindestens befremdlich - am Beispiel der Knabenliebe durchgeführt wird.

Unterwerfung um der Tugend willen

Der schlechte Liebhaber, heißt es da, ist nur am Körper des Geliebten interessiert, es geht ihm, würden wir heute formulieren, lediglich um sexuelle Triebbefriedigung. Der gute Liebhaber wählt einen geistig und seelisch vielversprechenden Knaben, der seinerseits vom Verhältnis mit dem Älteren die Förderung seiner Anlagen erhofft und sich ihm "um der Tugend willen" unterwirft.

Das griechische Wort heißt etheloduleia: freiwillige Dienstbarkeit. Man könnte nun meinen, dass die besagte Unterscheidung auf den "platonischen" Leib-Seele-Dualismus hinausläuft. Dem ist aber nicht so. Auch das edle Liebesverhältnis bezieht die körperliche Hingabe des Knaben ein, wenn sie auch freilich nur Stufe ist. Endziel ist die "areté", die "Tugend" als eine dem Schüler erreichbare Bestform.

Sokrates korrigiert diese Zielbestimmung: Es kommt dem vom pädagogischen Eros Getriebenen letztlich nicht auf die Erziehung des einzelnen Knaben an, sondern auf "Zeugung". Wie das Zusammensein von Mann und Frau leibliche Kinder hervorbringt, so begehrt der Lehrer im Jüngeren weniger sterbliche Nachkommen zu zeugen: Er sorgt für das Fortleben und Fortschreiten der großen intellektuellen und moralischen Errungenschaften, etwa der Idee eines "richtigen" Lebens und einer gerechten Ordnung.

Aber auch dabei wird die körperliche Nähe nicht ausgeklammert. Die den pädagogischen Eros resümierende Formulierung lautet: "Indem er den Schönen berührt und mit ihm Umgang pflegt, zeugt er, wovon er die Samen schon längst in sich trug, anwesend, abwesend an ihn denkend, und gemeinsam mit ihm zieht er das Gezeugte auf."

Uff! Am Straftatbestand einer so engen Gemeinschaft von Lehrer und Schüler würde heute, zweieinhalbtausend Jahre später, außer Vertuschung und Verjährung kein Weg vorbeiführen. Will man den pädagogischen Eros, wie Platon ihn verstand, retten, müsste man entscheidende Abstriche machen und eine haarscharfe Grenzziehung zwischen Erlaubtem und Verbotenem auf sich nehmen.

Die dauernde Nähe zwischen Erzieher und Zögling, die ein Zusammenleben unter Internatsbedingungen voraussetzt, schürt ein Klima, das die Möglichkeit der Grenzverletzung, des "Übergriffs" begünstigt. Deswegen treffen die Vorwürfe gegen die Kirche wohl nicht den wirklichen Schuldzusammenhang.

Dass die inkriminierten Vorfälle in katholischen Internaten besonders häufig auftraten und auftreten(?), hat wohl hauptsächlich historische Gründe: Die Klöster spielten nun einmal eine dominierende Rolle bei der Jugenderziehung; daran hat die Säkularisation viel, aber nicht alles geändert.

Pseudoerotisches Getue

Eine gewisse Einordnung der jüngsten Schreckensnachrichten, die freilich keine Entschuldigung für eindeutigen Missbrauch der jugendlichen Opfer sein darf und kann, bieten frühere Beispiele. Der homosexueller Neigungen unverdächtige Philosoph Friedrich Theodor Vischer ("Auch Einer") erinnert sich dankbar an seine in den zwanziger Jahren des 19.Jahrhunderts in der evangelischen Klosterschule von Blaubeuren verbrachte Alumnenzeit. "Das enggemeinschaftliche Heranwachsen jugendlicher Naturen bildet Freundschaften für das Leben... Ich möchte diesen fürs Leben gewonnenen Schatz des Geistes um keinen Preis hergeben."

So weit, so harmlos. Aber dieses Gemeinschaftsleben war von Erotik durchtränkt: "Es wurden völlige Romane abgespielt, man herzte, küsste sich, schrieb sich Billets, trennte und versöhnte sich." Diese "Knabenliebe" sei zum System ausgebildet gewesen, "so dass in dem Kreise von Verehrern, der sich um die Schönheiten des Seminars gesammelt, Ober- und Unterfreunde mit streng logischer Distinktion unterschieden wurden". Bis zu welchem Grad die Erzieher in dieses "System" einbezogen waren, bleibt ungesagt; ihr pädagogischer Eros muss es aber mindestens geduldet haben.

Strenge kastalische Ordenswelt

Aus Hermann Hesses frühem Schüler-Roman Unterm Rad wissen wir, dass die Verhältnisse in Maulbronn ganz ähnlich waren; die dort gemachten Erfahrungen haben noch in der strengen kastalischen Ordenswelt des "Glasperlenspiels" einen verhaltenen Nachklang gefunden: "Der ergreiste Held stirbt schließlich, indem er einem Knaben in zu kaltem Wasser nachschwimmt. Dacht' ich's doch." (So der etwas süffisante Kommentar Thomas Manns in einem Brief an seinen Sohn Klaus.) Hier wird also der pädagogische Eros mit dem Leben bezahlt.

Gustav Wyneken, Gründer der Freien Schulgemeinde Wickersdorf (1906) und Lehrer Walter Benjamins, musste sich 1921, weil zwei Knaben nackt von ihm umarmt worden waren, in einem Prozess verantworten. Ein Jahr später veröffentlichte er ein glühendes Plädoyer für seine die "Renaissance unseres Körpergefühls" und die "Wiedereroberung der Nacktheit" betonende Auffassung des pädagogischen Eros: "Wir meinen keine Gernhaberei und Nettigkeit, Onkelväterlichkeit, Wohlwollen und sogenannte Freundschaft und Kameradschaft mit den jungen Menschen, im Gegenteil, es war nötig, aus diesem pseudoerotischen Getue herauszukommen und deutlich den Eros zu bekennen, als den allein erlösenden und zeugenden; nicht durch Formeln und Programme ihn zu proklamieren, sondern ihm sein Reich zu gründen durch die Tat in der wirklichen Jugend." Die Radikalität einer solchen Verkündigung und Praxis musste zum Konflikt mit dem bürgerlichen Gesetzbuch führen; Wynecken sah sich gezwungen, die Leitung der Schule "gegen den Willen der Schulgemeinde", wie er hervorhebt, niederzulegen.

Der Zauber der Formbarkeit

1935 kam es zu einem Prozess gegen mehrere Lehrer der berühmten Evangelischen Erziehungsanstalt Schulpforta, wo Liebesverhältnisse zwischen "Tutoren" (Lehrern) und ihren "Empfohlenen" nicht selten waren. Im sogenannten Zötus, der Lebensgemeinschaft der Schüler, kursierte die in scherzhaftem Ton gestellte Frage: "Bist du auch röhmisch?" Hitler hatte den Führer der SA, den gefährlichen Rivalen Röhm, unter dem Vorwand von dessen Homosexualität ermorden lassen.

Kehren wir noch einmal zu den Griechen zurück. Der platonische Eros ist unterwegs nach dem Schönen, nach dessen Idee. Die Idee verkörperte sich - nicht nur, aber vorwiegend - im Jugendlichen etwa zwischen dem vierzehnten und achtzehnten Lebensjahr. Was war an ihm so reizvoll? Es war die Aura von unverbrauchter Zukunft, der Zauber des Noch-Nicht, die Offenheit, Begeisterungsfähigkeit, Formbarkeit. Diese Verfassung machte ihn freilich in hohem Grade verführbar; auch davon ist bei Platon die Rede.

Wenn pädagogischer Eros unter den gegenwärtigen Umständen noch eine Chance haben soll, ist er einerseits auf solche jugendlichen Eigenschaften angewiesen und muss andererseits Sinn für sie haben. Wer gar nichts übrig hat für Halbwüchsigkeit, keinen Gefallen findet an Jugendlichen, die zu sich selbst unterwegs sind und von denen man viel, nur nicht Dankbarkeit erwarten soll, kommt über solide Pflichtübungen nicht hinaus. Aber auch die brauchen wir.

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SZ vom 09.03.2010/ber/kar
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