Süddeutsche Zeitung

Missbrauch an Schulen:Im Zuchthaus

"Auch so wird man Schriftsteller": Bodo Kirchhoff, Josef Haslinger und Amelie Fried sprechen über ihre Erfahrungen in Internaten - über eine Hölle von autoritärer Gewalt.

Gustav Seibt

Die aktuellen Missbrauchsdebatten lösen nicht nur ungezählten unbekannten Opfern die Zunge, sie haben auch eine Reihe von Schriftstellern zu Bekenntnissen bewegt. Im jüngsten Spiegel bezeichnet Bodo Kirchhoff, den ein evangelischer Religionslehrer als Knaben sexuell befriedigte, das Missverhältnis einer zu frühen Erfahrung mit den sprachlichen Ausdrucksmitteln dafür geradezu als Quelle seiner Schriftstellerexistenz: "Ich musste über etwas sprechen, zu dem es keine Sprache gab, ich musste mir eine erfinden, auch so wird man Schriftsteller."

Die Autorin Amelie Fried hat am Wochenende in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, die Odenwaldschule als "rettende Hölle" ambivalent geschildert: Ein Ort von Freiheit und Erziehung zur Ich-Stärke, die durch den von Lehrern aufgebauten Gruppendruck, an sexuellen Spielen teilzunehmen, wieder eingeschränkt wurde. Viele wussten Bescheid, keiner redete: "Ich musste mich immer und immer wieder fragen, warum all das nicht dazu geführt hat, dass einer von uns sich jemandem anvertraut hat."

Dafür gebe es, so Fried, einen einleuchtenden Grund: "Als Kind oder sehr junger Jugendlicher will man nicht glauben, dass ein Lehrer, der ja ein Vorbild ist und ansonsten auch ein netter Kerl, etwas Unrechtes tut." Noch gewaltiger ist die Ambivalenz, mit der der österreichische Schriftsteller Josef Haslinger von seinen Erfahrungen in einem katholischen Internat - die er wie Kirchhoff im Alter von zwölf Jahren machte - in der Welt vom vergangenen Samstag berichtet: Die sexuellen Handlungen als etwas nicht Benennbares, aber in einer Hölle von autoritärer Gewalt mit allgegenwärtigen körperlichen Züchtigungen doch als Momente der Zuwendung, ja eine Form der Auszeichnung, wenn auch mit bösen moralischen Folgen: "Ich war verstört, weil ich zu dieser Zeit ja auch noch ein sehr religiöser Mensch war und selbst Priester werden wollte.

War Sokrates ein Päderast?

Die moralische Verstörung war weitaus übler als die erotische Konfusion", lautet Haslingers Resümee. Gleichwohl warnt er vor einer "Hexenjagd": "Am besten schützt man die Kinder, indem man den Pädophilen hilft, mit ihrer gesellschaftlich nicht gut integrierbaren Neigung auf eine Weise zu Rande zu kommen, die nicht das Strafgesetz berührt."

Offensiv verteidigt im Tagesspiegel vom Montag der Schweizer Schriftsteller Adolf Muschg den unter Anklage geratenen ehemaligen Odenwaldschulleiter Gerold Becker. "War Sokrates ein Päderast? Eine solche Frage ist wie ein roher Griff, der jeden delikaten Stoff unkenntlich macht. In den Augen der Politik verführte er junge Menschen zu gottlosen Fragen - und eröffnete damit einen zweitausendjährigen Diskurs der Aufklärung, der mit allem, was am Eros peinlicher Erdenrest bleibt, nicht aufgeräumt hat, und es, wenn er klug war, auch gar nicht versuchte. Das hat seine Gründe, die nicht im Missbrauch eines Einzelnen liegen, sondern im zwangsläufig Normwidrigen, das mit Sexualität verbunden ist." Aber hilft diese historisch-anthropologische Abkühlung der Frage wirklich? Wer den platonischen Sokrates lesen kann, ist kein sprach- und hilfloser Zwölfjähriger mehr.

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SZ vom 16.03.2010/kar
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