Für Leser, die noch nach einem geeigneten Zugang zum hermetischen Werk des rumänischen Monumental-Erzählers Mircea Cărtărescu suchen, aber vor dem schieren Umfang und Anspruch seiner visionären Welt-Romane zurückscheuen, bietet sich jetzt eine gut beschreitbare Pforte ins Innere dieses einzigartigen literarischen Universums. Anders als die phantasmagorische "Orbitor"-Trilogie und der surreale Kindheits- und Bukarest-Roman "Solenoid" ist "Melancolia" ein schmales Kompositum aus fünf überschaubaren Erzähltexten, die gleichwohl eindrücklich zeigen, worum es diesem Autor in seinem ganzen Œuvre geht, nämlich um phantastische Inbilder der Metamorphose, des unentwegten Gestaltwandels der Welt. Cărtărescu will nicht bloß Geschichten über die Welt erzählen; er hat den Ehrgeiz, dass sein Werk selbst Welt sei.
Genau genommen ist der Schöpfer von Cărtărescus gesamtem Erzählwerk der selbstgenügsam spielende kleine Junge, der er einmal war, in seinem Kinderzimmer in einem Plattenbau in der Bukarester Stefan-cel-Mare-Chaussee. Mircea allein zu Haus. Ausgehend von diesem Kinderzimmer eröffnen sich alle Erzählräume. Alles ist Ich-Erkundung, alles spielt sich einzig im Kopf dieses Kindes ab, dort entspringen alle Erzählströme.
Die Fantasien, Träume und Alpträume des Kindes von einst werden vom erwachsenen Cărtărescu in seinem literarischen Werk erinnernd imaginiert und zu seiner ganz persönlichen Mythologie entfaltet. Das innere Universum unter der Schädeldecke dieses Kindes ist seine eigentliche, seine einzig wirkliche Welt, und sie ist geprägt von extremer Sensibilität. Verglichen damit hat die äußere Realität nur den Status einer gespenstischen, schattenhaften Parallelwelt im Zustand unaufhörlichen Zerfalls.
Den Rahmen des "Melancolia"-Bandes bilden ein Prolog, eine kafkaeske Torwächter-Fantasie, und ein Epilog, eine Klage über die lebenslange Gefangenschaft im Kerker des eigenen Körpers. Dazwischen drei Mittelstücke, Erzählungen über Kindheit und Jugend dreier Bukarester Jungen in drei Stadien ihrer Entwicklung in den 1960er Jahren - als Fünfjähriger, mit acht Jahren und als Fünfzehnjähriger.
Es sind drei Phasen des schwebenden Übergangs, des Gestaltwandels von Heranwachsenden, die dennoch im Kerker des eigenen Ich gefangen bleiben. Alle drei Phasen sind imprägniert von Schwermut, Angst, Einsamkeit und Tod. Die Eltern figurieren nur als schemenhafte Gespenster oder als leblose Riesen-Idole, der Vater ein Koloss aus Kautschuk, die Mutter eine gigantische Schokoladenfigur in buntem Stanniolpapier, ein süßer Mutterleib, in den zurückzukriechen der Junge sich oftmals vorstellt.
Die Aggregat-Zustände des Bewusstseins der drei Jungen oszillieren zwischen Wachsein und Schlaf. Alle drei Texte lassen den Realitätsgrad dessen in Schwebe, was den Jungen widerfährt. Die Wirklichkeit ist vielleicht nur geträumt und die Traumwelt die wahre Wirklichkeit. Der Fünfjährige der ersten Erzählung "Die Stege" sieht sich mit seinen Spielsachen in der Wohnung alleingelassen: "Die Mutter war eines Morgens zum Einkaufen gegangen und nie wieder zurückgekehrt. Seitdem waren Wochen oder Monate vergangen, oder Jahre." Über magische Regenbogen-Stege wagt er sich manchmal hinaus in die spukhafte Außenwelt. Endlich hört er, wie die Mutter draußen den Schlüssel in der Tür dreht - ist das jetzt oder war das vorher ein Traum?
Der Junge hortet seine abgelegten Häute, denen er entwachsen ist, auf Kleiderbügeln in seinem Schrank
Im zweiten Text "Die Füchse" lebt ein Geschwisterpaar, der achtjährige Marcel und die dreijährige Isabel, im gemeinsamen Kinderzimmer, innigst gebannt in die magische Welt ihrer unendlichen Spiele, aus der sie nicht mehr hinausfinden. Sind die mörderischen Füchse, die Isabel bedrohen, Ausgeburten der Alptraum-Ängste des Bruders oder seine fantastischen Umdeutungen des realen Todes des kleinen Mädchens? Cărtărescu belässt das im Ungewissen.
Schließlich der Gymnasiast Ivan in "Die Häute", der letzten und tiefgründigsten der drei Geschichten. Der Fünfzehnjährige durchlebt und durchleidet alle Pubertätsängste der eigenen fluiden Identität und fantasiert über die geheimnisvolle Körperlichkeit der Mädchen, die ihn quälend fasziniert. Ivans Gestaltwandel ist nicht nur ablesbar an den Kleidern, aus denen er herausgewachsen ist.
Cărtărescu modelliert diese Verwandlung nach den Metamorphosen sich entpuppender Insektenlarven oder sich häutender Schlangen. Ivan hortet seine abgelegten Häute, denen er entwachsen ist, auf Kleiderbügeln in seinem Schrank und entdeckt schließlich sogar, wo die Mutter seine frühen Embryo-Häute aufbewahrt hat. Zugleich wird er von ersten fantastischen Ahnungen seines künftigen Dichtertums heimgesucht. Sein Idol ist ein altehrwürdiger Dichter mit dem symbolischen Namen Vasile Singurătate, dem rumänischen Wort für Einsamkeit. "Melancolia" enthält den ganzen Cărtărescu wie den Kern in einer Nussschale. Ihn zu knabbern lohnt sich aufs Köstlichste.