Süddeutsche Zeitung

Mira Nair über "The Reluctant Fundamentalist":"Wenn Waffen mächtiger werden als der Verstand"

Haben Ablehnung und Misstrauen nach 9/11 den Wall-Street-Aufsteiger Changez zum Islamisten gemacht? Die indische Regisseurin Mira Nair hat mit "The Reluctant Fundamentalist" einen ungewöhnlichen Thriller gedreht. Ein Gespräch über Vorurteile und eine Zeit, in der Dinge sehr schnell außer Kontrolle geraten.

Von Irene Helmes

Mira Nair wurde 1957 in Indien geboren und lebt inzwischen in New York und Delhi. Ihr jüngster Spielfilm ist "The Reluctant Fundamentalist" nach dem gleichnamigen Buch von Mohsin Hamid (der Trailer ist hier zu sehen). Darin treffen der junge Professor Changez Khan (Riz Ahmed) und der US-Journalist Bobby Lincoln (Liev Schreiber) in Pakistan aufeinander. Warum hat Changez nach dem 11. September 2001 seine Karriere an der Wall Street beendet und ist in seine Heimat zurückgekehrt? Ist er zum Islamisten geworden? Nach und nach erzählt Changez, was damals in New York passiert ist - und welche Rolle seine Künstler-Freundin Erica (Kate Hudson) spielte.

Der Film feierte im Sommer 2012 Weltpremiere als Eröffnungsbeitrag des Festivals von Venedig. In Deutschland lief er erstmals beim Filmfest München 2013 und erhielt dort den Friedenspreis des Deutschen Films, kam jedoch nicht regulär in die Kinos. Am 25. März erscheint er auf Deutsch als DVD.

SZ.de: Sie haben gesagt, das Kino sollte der Welt einen Spiegel vorhalten. Was sehen wir im Spiegel von "The Reluctant Fundamentalist"?

Mira Nair: Wir sehen das Misstrauen, das die westliche Welt und die sogenannte islamische Welt gegeneinander hegen. Und wie wenige Möglichkeiten sich bieten, Verständnis füreinander zu entwickeln und wahrzunehmen, dass die auf der anderen Seite auch Menschen sind. Ich glaube, es ist die Aufgabe von Leuten wie mir, die tatsächlich voller Liebe und Begeisterung in zwei von vielen Welten zugleich leben, diesen Spiegel vorzuhalten.

Sie haben - wie viele andere - kritisiert, die Debatte nach 9/11 sei mehr ein Monolog als ein Dialog gewesen. In welcher Hinsicht ist Ihr Film anders?

Nun, ich hoffe, der Film ist keine Predigt. Er ist ein echter Drahtseilakt. Es geht um zwei Menschen, die nie wissen, wer der Andere nun eigentlich ist. Und ihre Vorurteile beeinflussen, wie bei uns allen, was sie erleben. Es ist ein Thriller, weil nichts so ist, wie es zunächst scheint. Ich fand es schön, als jemand den Film einen "menschlichen Thriller" genannt hat. Weil man am Ende versteht, wie beide Männer ihre wahre Stimme finden.

Changez und Bobby sind durch ihre Vergangenheit gezeichnet und voller Zweifel und Fragen. Es entsteht der Eindruck, wenigstens sie sollten in der Lage sein, Vertrauen zueinander aufzubauen. Doch dann ...

... geht es schief, ja.

Erzählen Sie also eine pessimistische Geschichte?

Nein, denn ich glaube, man merkt, dass diese beiden Männer in einer anderen Zeit und an einem anderen Ort Freunde sein könnten. Aber wir leben in einem Moment unserer Geschichte, in dem Dinge sehr schnell außer Kontrolle geraten können. Das passiert, wenn eine Kultur des Krieges entsteht. Wenn Waffen mächtiger werden als der Verstand.

Sie haben nicht nur in der Story, sondern auch in Ihrem Team verschiedene Welten zusammengebracht. Wie schwer war es, US-Stars wie Kiefer Sutherland und Kate Hudson für ein so ambivalentes Projekt zu gewinnen?

Überhaupt nicht schwer. Kiefer, der Changez' New Yorker Boss spielt, und die anderen haben so sehr an den Film geglaubt. Denn es ist eine ungewöhnliche Geschichte, die wir mit einem wirklich internationalen Team erzählen. Oft kommt es schließlich nicht vor, dass ein pakistanisch-stämmiger Schauspieler die Hauptrolle übernimmt, neben Stars aus Hollywood und Bollywood. Normalerweise geht es doch immer um einen jungen, weißen, blonden Mann - das war natürlich eine interessante Verschiebung des Gleichgewichts, auch innerhalb des Casts. Aber alle wollten diese Geschichte erzählen.

An der Vorlage von Mohsin Hamid haben Sie einige Änderungen vorgenommen.

Allerdings. Das Buch hat die Form eines Monologs von Changez, gerichtet an einen Amerikaner, der selbst kein Wort sagt. Für uns war es wichtig, den Charakter dieses Bobby Lincoln zu entwickeln - und zwar nicht als den Bösen. Wir haben uns die Frage gestellt, was mit ihm passiert, nachdem er einst mit bestem Willen nach Pakistan gekommen ist. Wird dieser Ort jemals eine Heimat für ihn sein, ihn ganz akzeptieren? Solche Fragen habe ich mir schon immer in meiner Arbeit gestellt.

Wir haben auch den Charakter der Erica, gespielt von Kate Hudson, geändert. Im Roman verschwindet sie irgendwann einfach aus der Erzählung, vermutlich nimmt sie sich das Leben. Damit hatte ich Schwierigkeiten, ich wollte eine widersprüchliche Frauenfigur voller Energie. Und damit es nicht nur um Männer geht, habe ich aus Changez' Bruder eine Schwester gemacht, gespielt von der wunderbaren pakistanischen Rocksängerin Meesha Shafi. Frauen in Pakistan sind außerordentlich selbstbewusst, witzig und frech, und sie verkörpert das.

Das Milieu, in dem "The Reluctant Fundamentalist" spielt, ist extrem. Changez lebt in der superkapitalistischen Upper-Class, in der Wall-Street-Blase, von der er sich dann wieder entfernt. Würde die Geschichte auch funktionieren, wenn sie in einer anderen Schicht angesiedelt wäre?

Ich denke, die Geschichte zeigt: Klassenzugehörigkeit und Privilegien schützen nicht vor Diskriminierung, davor, wie Leute über dich denken. Egal in welcher Welt man lebt, das wird am Ende nicht helfen. Wenn dein Gesicht als "anders" wahrgenommen wird, dann ist es egal, ob du ein Müllmann bist oder ein Banker. Man denkt, man sei abgeschirmt durch Privilegien und Macht, aber das ist ein Irrtum. Und anderswo wäre es eher noch schlimmer geworden.

An einer Stelle des Films spricht Changez von zwei Arten des Fundamentalismus - vom extremen Kapitalismus und vom Islamismus. Und bezogen auf seine einstige Karriere sagt er: "Ich wurde müde, das Leben von Menschen zu verändern, die ich nicht einmal kannte".

Er versteht, dass das Denken in der Welt des Geldes und in der Welt des Terrors sich letztlich ähnelt: Menschen zählen dort nicht. Und daran will er keinen Anteil haben. Das ist doch ein wirklich interessanter Gedanke für uns alle: Wir haben den Finanzcrash und die anschließende Krise erlebt und wir sehen, wie manche immer noch ihre Boni kassieren und andere ausbeuten. Die Jüngeren sind inzwischen etwas aufgewacht, mit der Occupy-Bewegung zum Beispiel. Wir müssen das verstehen lernen, es muss einen anderen Weg geben.

Ein großer Teil Ihres Lebens spielt sich seit vielen Jahren in New York ab. Was sind Ihre persönlichen Erinnerungen?

New York ist ein wunderbarer Ort, an dem sich jeder zuhause fühlt, egal woher er kommt. Es war nach 9/11 dann sehr schwer, sich einzugestehen, dass Menschen wie ich in ihrer eigenen Stadt plötzlich als "die Anderen" wahrgenommen wurden. Ich machte mir plötzlich Sorgen, wenn mein zehnjähriger Sohn mit seinem Großvater in die Moschee ging. Das sind kleine Sachen, die einen zum Nachdenken brachten. Dabei ist es nicht einmal mein Glaube. Das alles hat sich dank der Art der New Yorker auch wieder gelegt. Aber ein echter Dialog hat sich doch nirgendwo entwickelt.

Seit 9/11 ist viel Zeit vergangen. Nachdem Mohsin Hamids "Reluctant Fundamentalist" 2007 erschienen war, nannte der Guardian es eines der wichtigsten Bücher des Jahrzehnts. Tut es dem Film gut, dass er in noch größerem Abstand entstanden ist und gesehen wird?

Ich glaube schon. Dieser Film hat ein Jahrzehnt gebraucht, weil es einfach so kompliziert ist. Nicht nur Ereignisse definieren uns, sondern vor allem die Reaktionen darauf. Und die Reaktionen auf 9/11 waren so polarisierend - das muss man erst mal verarbeiten, bevor man es zu einer Geschichte macht. Einer meiner absoluten Lieblingsfilme ist "Schlacht um Algier" von Gillo Pontecorvo [ein preisgekröntes Drama von 1966 über den algerischen Unabhängigkeitskampf, Anm. d. Red]. Es war brillant, dass darin beide Seiten gezeigt wurden, und das war mir auch für diesen Film wichtig. Und zwar nicht als Gut oder Böse, sondern hoffentlich mit dem gleichen Schmerz und sogar der gleichen Liebe. Das kann man nicht sofort, wenn alles noch zu nah ist.

Was war für Sie die schönste - und die schlimmste - Reaktion auf Ihren Film?

Beim Festival von Venedig haben wir 20 Minuten lang Applaus bekommen. Bei der Party danach beobachtete mich eine alte Dame, kam schließlich langsam auf mich zu und fragte mich, ob ich die Regisseurin sei. Und dann sagte sie, sie sei Gillo Pontecorvos Witwe, und sie denke, dass er in mir weiterlebe. Das hat mich umgehauen. Die schlimmen Reaktionen vergisst man natürlich lieber (lacht). Eine davon war, dass mir von einigen vorgeworfen wurde, als Inderin einen Film über Pakistan gemacht zu haben. Es lohnt sich fast nicht, so etwas zu wiederholen. Es gibt so viel Bigotterie in der Welt.

Mira Nair wurde 1957 in Bhubaneswar im Osten Indiens geboren und lebt inzwischen in New York und Delhi. Als sie mit nicht einmal 30 Jahren mit "Salaam Bombay!" ihr Debüt als Spielfilmregisseurin gab, brachte ihr das eine Oscar-Nominierung ein. Mit "Monsoon Wedding" hatte Nair 2001 weltweiten Erfolg und gewann in Venedig den Goldenen Löwen. 2009 drehte sie eine Episode des kaleidoskopischen Films "New York, I love you".

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