Minimal Music:"Ich mache einfach, was ich will"

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Terry Riley ist 83 Jahre alt, der Erfinder der Minimal Music und noch immer begeistert als Improvisator auf Tour. Eine Begegnung in Amsterdam, wo er jetzt mit seinem Sohn Gyan auftrat.

Von Franziska Dürmeier

Vor mehr als einem halben Jahrhundert, als Terry Riley in Kalifornien vor dem Radio saß und die Standards der 40er Jahre auf dem Klavier nachspielte und nachsang, wurde der Grundstein für das gelegt, was folgen sollte: Der junge Riley lernte sein Spiel nach Gehör, nach Gefühl. Er sträubte sich von Beginn an gegen eine strenge klassische Ausbildung, erzählt der 83-Jährige jetzt im Backstage nach seinem jüngsten Konzert in Amsterdam. "Ich habe zwar später gelernt, Musik zu lesen und zu schreiben, aber was ich wirklich fühlte, wohin ich wirklich wollte, war nicht die klassische Form. Ich wollte keine Musik nach Rezept machen."

Dass ein späterer Versuch, klassischer Pianist zu werden, scheiterte, sei deshalb aus heutiger Sicht eine gute Entwicklung gewesen. "Ich lebte in einer kleinen Stadt in Kalifornien und realisierte nicht, wie fortgeschritten die anderen Jugendlichen in San Francisco waren. Zudem hatte ich schreckliche Auftrittsangst, weil ich immer etwas vergaß. Ich wollte diesen Stress nicht in meinem Leben." Der Schritt, selbst zum Komponisten und Improvisator zu werden, war für ihn nur eine logische Folge - und fühlte sich für ihn gut an: "Ich stellte fest, dass ich meine eigene Musik nicht vergessen würde. Und wenn, würde ich einfach irgendwas spielen und nicht Bach oder Beethoven vermasseln." Er lacht.

Dann studierte Riley in San Francisco und Berkeley Musik und Komposition und professionalisierte sein Können. Doch sein Weg zur Improvisation ist eine natürliche Entwicklung und bis heute ein zentrales Element seiner Musik. Auch seine Kompositionen haben ihren Ursprung in seiner freien Herangehensweise und lassen stets Raum für Variation und freie Interpretation. "Ich wurde ein Improvisator, da ich improvisiere, um zu komponieren", sagt er. "Ich arbeite nicht gerne mit starren Musikformen. Die Form muss offen sein für Erkundungen."

Während Riley erzählt, fährt er sich immer wieder durch den langen weißen Bart, der sich zum Ende hin lockt. Sein kahler Kopf ist diesmal nicht wie sonst oft von einer bunt bestickten Kappe bedeckt. Er trägt ein Patchwork-Hemd in verwaschenen Rot-, Braun- und Blautönen, eine legere schwarze Hose und schwarze Lederhalbschuhe. Die Finger zieren silberne Ringe, ein größerer mit türkisem Stein sticht heraus. In jeder Mimik und Gestik strahlt er Ruhe und Kraft aus. Lachfalten haben seine Augen umzeichnet und zeugen von den "Momenten des vollkommenen Glücks", die er empfinde, wenn er Musik macht.

Vorbereitung braucht Terry Riley nicht: "Ich warte einfach, bis es los geht. Sobald ich auf die Bühne komme, finde ich Musik." (Foto: Franziska Dürmeier)

Auch jetzt, während seines Konzerts in Amsterdam mit seinem 41-jährigen Sohn Gyan, sei er einfach nur glücklich gewesen, sagt er. Im Gegensatz zu seinem Vater ist Gyans Aussehen unauffällig: dunkelblaues Hemd, braune Hose, Sneaker, Stoppelbart, kurze dunkle Haare. Als die zwei die Bühne betreten, empfängt sie kräftiger Applaus. Terry geht langsam und behutsam hinter dem schwarzen Flügel vorbei, biegt ab und stellt sich vor das Publikum. Die Menschen stehen dicht gedrängt im ausverkauften Bimhuis, einer Spielstätte für Jazz und improvisierte Musik in einem quaderförmigen Anbau, der über das Ufer des IJ ragt. Jeder der mit rotem Leder bezogenen Sitzplätze ist besetzt, zahlreiche Besucher lehnen an den holzverkleideten Seitenwänden, sitzen auf den Treppen und dem Boden.

Terry Riley hält ein paar Sekunden inne und scannt das Publikum. Dann zeigt er sein warmes Lächeln, nickt als Geste des Dankes, lässt sich wortlos auf den Klavierhocker nieder und setzt seine Brille auf. Seine Mimik wird ernst, er wirkt nun konzentriert und blickt zu Gyan. Sie nicken sich zu. Terry beginnt. Sein Spiel ist kräftig, die Finger springen über die Tasten, der volle Klang des Flügels erfüllt den Raum. Kurz danach setzt Gyan auf der E-Gitarre ein, die lang gezogenen Töne lösen das Klavierspiel langsam ab, kurz spielt er allein, dann stößt Terry wieder hinzu.

"Mein Lehrer stand um fünf Uhr morgens auf, um Ragas zu singen. Ich war es von New York gewohnt, um fünf ins Bett zu gehen."

Von einem Moment auf den anderen fließt die Musik, fließen die Melodien, mit einer Selbstsicherheit, die sich aus jahrzehntelanger Auftrittserfahrung speist. Elemente von Jazz, indischer Musik, Klassik und Minimal verschmelzen, Terry wechselt mehrmals zwischen Flügel, Synthesizer und Melodica, spielt zwischendurch über eine App auf seinem Tablet, singt Ragas. Wenige Minuten zuvor saßen die beiden Musiker noch im Backstage, aßen Gemüse, Obst und Cracker mit Hummus und unterhielten sich, erzählt Terry später. Vorbereitung irgendeiner Art brauche er grundsätzlich nicht. "Ich warte einfach, bis es los geht. Sobald ich auf die Bühne komme, finde ich Musik. Ich möchte Musik im Moment machen."

Es fällt ihm schwer, Worte zu finden für das, was in ihm abläuft, wenn er spielt: "Sobald ich angefangen habe, versuche ich zuzuhören und zu spüren, wie die Energie in die Musik fließt, wann es Zeit ist aufzuhören, wann es Zeit ist, im gleichen Stück in eine andere Musikart zu wechseln, es ist ein Gefühl", erklärt Terry. "Man muss viel üben und täglich daran arbeiten, um musikalisch ein hohes Niveau zu erreichen. Man lernt Tonleitern, Akkorde, Harmonien, man lernt, in verschiedenen Taktarten zu spielen. Und dann, wenn man improvisiert, vergisst man alles - und hört nur noch. Ich versuche nicht zu denken, wenn ich spiele."

Als die Aufbruchstimmung der Hippiebewegung im Kalifornien der 1960er und 70er Jahre auch die Musik erfasste, war Terry Riley mittendrin. Er spielte nächtelange Orgelkonzerte, improvisierte sich durch Jazzbars und Nachtclubs in San Francisco, New York und Paris, experimentierte mit Drogen und Tonbandmaschinen, reiste nach Mexiko, Marokko und lernte in Indien die Kunst der Ragas, nahm in Westdeutschland und Skandinavien an Happenings teil und komponierte das Stück "In C", welches als die Geburtsstunde der Minimal Music gilt. Er arbeitete mit La Monte Young, Chet Baker, Don Cherry und John Cale zusammen und beeinflusste zugleich Zeitgenossen wie Philip Glass, Steve Reich, The Who, The Velvet Underground, Soft Machine und Krautrockbands wie Agitation Free.

Elemente von Jazz, indischer Musik, Klassik und Minimal verschmelzen, Terry Riley wechselt zwischen Flügel, Synthesizer und Melodica. (Foto: Franziska Dürmeier)

Am wichtigsten für seine Improvisationen sei jedoch der Jazz gewesen, sagt er rückblickend. "Ich war in einer Jazzband, begann John Coltrane und Ornette Coleman zu spielen und übte Improvisation. Doch ich spielte auch weiterhin Standards, das mache ich bis heute." Der zweite große Einfluss war klassische indische Musik. Der nordindische Sänger Pandit Pran Nath unterrichtete ihn in Indien und den USA. "Das war ein wundervolles Improvisationstraining und brachte mich individuellen Klängen näher. Ich lernte, einen Ton zu singen, lernte, wie er klingt, lernte einen weiteren Ton, lernte nach und nach Komposition, Ragas und Rhythmen - und letztlich einen ganz neuen Lebensstil. Mein Lehrer stand um fünf Uhr morgens auf, um Ragas zu singen. Ich war es von New York gewohnt, um fünf ins Bett zu gehen."

"Es gibt Entscheidungen, aber keine Fehler. Manchmal führt das, was wir als Fehler bezeichnen würden, dich in einen Bereich, in dem du noch nicht gewesen bist. Das ist eine gute Sache, daraus kann wiederum etwas Neues erwachsen."

Wenn Terry und Gyan zusammenspielen, überschreiten sie ständig Grenzen: Sie springen von einem Musikstil zum nächsten, von einem Gefühl zum anderen, sie wechseln Rhythmen, Harmonien, Tempi, als würden sie all die musikalischen Stationen ihres Lebens in eineinviertel Stunden durchlaufen. Ein zartes, repetitives Motiv, das Terry Riley auf dem Synthesizer spielt und das an die Aufnahmen von "A Rainbow in Curved Air" und "The Persian Surgery Dervishes" erinnert, geht über ins charmant-chaotische Feedback der E-Gitarre, Gyan verzerrt den Sound mit einem Delay-Effekt bis ins Ulkige, beide lachen sich breit an, wippen im Beat, Terrys Füße wackeln - bevor sie im nächsten Moment wieder in volle Ernsthaftigkeit übergehen.

"Es ist eine sehr spezielle Beziehung", sagt Terry Riley über die Zusammenarbeit mit seinem Sohn. "Wir sind verwandt, das bringt uns auf einer Gefühlsebene sehr nahe." Der Blickkontakt sei für die Improvisation essenziell: "Wir sehen nach, wie sich der andere fühlt." Besonders das Zusammenspiel im Duo erfordere sehr viel Aufmerksamkeit: "Wenn ich alleine spiele, kann ich plötzlich einen Bruch einbauen, ungewöhnliche Akkorde spielen oder in eine neue Richtung gehen. Wenn man aber mit jemandem zusammenspielt, muss man sehr genau auf den Fluss der Musik achten, den man gemeinsam kreiert. Es ist wie eine Unterhaltung: Wenn du eine gute Unterhaltung führst, hörst du deinem Gesprächspartner zu. Doch meist sprechen wir zur gleichen Zeit. Das verlangt eine hohe Aufmerksamkeit. Man weiß nie, wohin die Musik führt. Du musst zuhören und die Richtung der Musik gemeinsam erfühlen."

Gyan und Terry arbeiten bei ihren gemeinsamen Improvisationen sowohl mit Versatzstücken aus der Vergangenheit, die im Moment hochkommen und immer variiert werden, als auch mit komplett neuen, spontanen Ideen. Letzteres mache sie am glücklichsten, sagt Terry. Fehler gibt es für ihn nicht: "Es gibt Entscheidungen, aber keine Fehler. Vielleicht sind manche Entscheidungen besser als andere. Und manchmal führt das, was wir als Fehler bezeichnen würden, dich in einen Bereich, in dem du noch nicht gewesen bist. Das ist eine gute Sache, daraus kann wiederum etwas Neues erwachsen."

Terry Riley hat sich seinen freien Geist bewahrt, auch im Alltag. 1974 ist er in die nordkalifornische Sierra Nevada zurückgekehrt, seine Heimat. Das frühe Aufstehen um 5 Uhr hat er wieder aufgegeben, er lebt heute völlig frei von Routine. "Es ist alles wieder durcheinander. Ich mache einfach, was ich will, und wenn ich mich danach fühle, spiele ich manchmal bis spät in die Nacht. Ich glaube, in meinem Alter muss ich mir wegen solcher Dinge keine Sorgen mehr machen. Ich lebe von Tag zu Tag, jeder Tag ist anders, jeder Tag ist ein Segen. Ich lebe spontan und folge meiner Inspiration."

© SZ vom 16.04.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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