Mikrogeschichte:Kugeln im Mund

Apollonia Thüringer verschlang ihren Mann. Schmeckte es?fragte der Pfarrer. - Hans Medick hat Zeugnisse aus dem Dreißigjährigen Krieg versammelt, Geschichten von Kannibalismus, Grausamkeiten, Verletzungen in der Schlacht.

Von Rudolf Neumaier

Im Dörfchen Agawang bei Augsburg fehlten Leichen. Der Pfarrer von Kutzenhausen war gekommen, um eine Messe zu lesen. Danach wollte er neun Agawanger beerdigen, die wenige Wochen zuvor gestorben waren. Verhungert. Vier Leichname waren noch auffindbar. Und die anderen? Was der Kutzenhausener Pfarrer auf diese Frage zu hören bekam, erschreckte ihn fürchterlich. Man habe sie aufgegessen, die Witwen Millerin und Reglerin hätten die toten Menschen zubereitet. Weil sie sonst selbst verhungert wären.

Dieser an den Augsburger Domprobst erstattete Bericht aus dem Dreißigjährigen Krieg ist im Jahr 1839 publiziert worden, er geriet gleich wieder in Vergessenheit. Nun hat Hans Medick das Schreiben des Pfarrers neu aufbereitet, und es ist exemplarisch für das neue Buch des Historikers. Kaum eine andere der vielen neuen Studien zum Dreißigjährigen Krieg führt ihren Lesern die Sorgen und Nöte, die Grausamkeiten und die menschlichen Abgründe so plastisch vor Augen wie die des Göttinger Historikers.

Er erzählt seine Geschichten dieses Krieges an ausgewählten Originalquellen. Und weil sich Medick, Jahrgang 1939, der Alltagsgeschichte verschrieben hat, die er gegen den Argwohn von Sozial- und Politikhistorikern mit dem geradezu niedlich klingenden Begriff Mikrogeschichte als Disziplin seines Faches etabliert hat, lebt diese Geschichte vergessener Menschen. Sie haben hier Namen. Die Reglerin, die Millerin und Appolonia Thüringer, die ihren eigenen Mann verschlang. Schmeckte es?, wollte der Pfarrer wissen. Nicht schlecht, bekam er zur Antwort, am besten seien Hirn, Herz und Nieren gewesen. Der Dompropst wies den Pfarrer dann an, milde zu bleiben und die Kannibalen nicht mit Schlägen zu bestrafen.

Den Knochenfunden von Lützen lassen sich ganze Trauma-Biografien ablesen

Für Hans Medick wäre die schauderhafte Überlieferung nun Anlass, einen Gedächtnisort einzurichten in Agawang. Er beklagt, dass "in den Web-Auftritten des Ortes auch noch im 21. Jahrhundert geschwiegen" werde. Solche Mahnungen sind im Kontext dieser brutalen Mikro-Geschichten durchaus zulässig.

Die politischen Dimensionen des Krieges blendet er keineswegs aus. Auch Protagonisten wie Tilly und Gustav Adolf spielen ihre Rollen, von Wallenstein ediert Medick den Hilferuf an Feldmarschall Pappenheim vor der Schlacht bei Lützen, zu der sich der Historiker bei den Archäologen umtut. Sie entdeckten vor sieben Jahren ein Massengrab am Schlachtfeld, auf dem der Schwedenkönig starb.

Die meisten Gebeine stammen von den Angehörigen einer schwedischen Infanterieeinheit. Medick, den Mikrogeschichtler und historischen Anthropologen, fasziniert ein solcher Fund: Die Knochen einfacher Soldaten brechen "die einseitige Fixierung auf den getöteten Schwedenkönig" auf und "lassen ganze Trauma-Biographien ablesen". In den Kiefern von zwei Skeletten fanden sich zwei unverschossene Bleikugeln. Das heißt: Sie wurden getroffen, als sie selbst gerade ihre Waffen zum Schuss präparierten - man weiß, dass die Soldaten ihre Kugeln dabei im Mund deponierten. Näher kann man dem Schrecken kaum kommen. Ecce homo: So schauderhaft ist Krieg.

Seine Pflichten hat Medick nebenbei und souverän erfüllt. Er hat die, wie er sagt, "teilweise forschungsintensiven" Opera von Peter Wilson, Georg Schmidt und Herfried Münkler studiert und verarbeitet, wobei man raten darf, welchen Autor er mit der Einschränkung "teilweise" wohl kompromittiert. Und dann hat er mit seinen "Zeugnissen vom Leben mit Gewalt" eine ganz andere Geschichte gestrickt. Ein Anti-Kriegs-Buch.

Hans Medick: Der Dreißigjährige Krieg. Zeugnisse vom Leben mit Gewalt. Wallstein Verlag, Göttingen 2018. 448 Seiten, 29,90 Euro.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: