Biografie "Mike Nichols: A Life" von Mark Harris:Weil es von dir handelt

Als Meister von Kino- und Broadway-Inszenierungen ist Mike Nichols unvergessen - Zeit für eine Würdigung seines spannungsreichen Lebens. Sie stammt von Mark Harris, der ihm ungewöhnlich nahe kam.

Von Jan Jekal

"Unvorstellbares, unverdientes, lebenslang beschämendes Glück", wie er es später nennen sollte, bewahrte den jungen Igor vor dem sicheren Tod. Wenige Monate bevor die Nazis Polen überfielen, bestieg der Siebenjährige mit seinem kleinen Bruder den Passagierdampfer Bremen nach New York. Der Vater war vor ihnen emigriert und erwartete sie dort. Die kranke Mutter mussten sie vorerst zurücklassen, in Charlottenburg, dem jüdisch-bürgerlichen Berliner Stadtteil, der keine Heimat mehr war. Ein entfernter Verwandter in Amerika hatte sich bereit erklärt, für die Familie zu bürgen; nur deshalb durften die beiden jüdischen Jungs, die alleine den Atlantik überquerten, überhaupt einreisen.

Später machte der Flüchtling aus seiner Fahrt mit dem Dampfschiff eine launige Anekdote, dichtete Schilder hinzu, die an seine Kleidung geheftet waren: "I Do Not Speak English" und "Please Do Not Kiss Me". Er nahm das Entsetzliche und machte einen Witz daraus. Aus Igor, dem Berliner Jungen, wurde der große amerikanische Broadway- und Hollywood-Regisseur Mike Nichols (1931 - 2014), den der Filmhistoriker Mark Harris nun in einer ausführlich recherchierten, stilistisch exzellenten Biografie würdigt.

Nichols' bekanntester Film ist "The Graduate / Die Reifeprüfung" von 1967, für den er mit dem Oscar für die beste Regie ausgezeichnet wurde. Mit seiner stylisch gefilmten, kunstvoll geschnittenen Satire des dahindämmernden College-Absolventen Benjamin Braddock, der eine Affäre mit einer älteren Frau beginnt und sich danach auf deren Tochter konzentriert, läutete Nichols die aufregende, subversive Ära des New Hollywood ein. Sein Regiedebüt stammt aus dem Jahr davor und fand ebenfalls schon große Beachtung: "Wer hat Angst vor Virginia Woolf?" mit Elizabeth Taylor und Richard Burton.

An diesem Punkt hatte Nichols bereits eine Karriere als Broadway-Star hinter sich, war mit seiner Partnerin Elaine May in einer stilprägenden Sketch-Show aufgetreten und hatte mit seinen Inszenierungen der Neil-Simon-Stücke "Barefoot in the Park" (1964) und "The Odd Couple / Ein seltsames Paar" (1965) Maßstäbe gesetzt, welcher Realismus (und welch kommerzieller Erfolg) im komischem Theater möglich war. Nichols' Trefferquote sank später - Mitte der Siebziger drehte er auch mal einen Thriller über sprechende Delfine -, bis zu seinem Tod aber blieb er eine zentrale Figur der amerikanischen Film- und Theaterszene, drehte zum Beispiel die hervorragenden Komödien "Working Girl / Die Waffen der Frauen" (1988) und "The Birdcage" (1996), oder inszenierte am Broadway "Death of a Salesman" (2012) mit Philip Seymour Hoffman als Willy Loman.

Harris ist mit Tony Kushner verheiratet, der für Nichols geschrieben hat

Für "Mike Nichols: A Life" hat Harris mit Hunderten von Nichols' Weggefährten, Freunden und Kolleginnen gesprochen, eine illustre Liste der prominentesten Namen Hollywoods, die nicht nur den Stellenwert des 2014 verstorbenen Filmemachers demonstriert, sondern auch die für einen Filmhistoriker einzigartige Position seines Biografen. Harris ist mit dem Dramatiker und Drehbuchautoren Tony Kushner verheiratet, dessen Stück "Angels in America" Nichols 2003 für das Fernsehen adaptiert hatte.

Der Biograf ist also Teil der Welt, die er beschreibt. Nichols ist für ihn kein Subjekt, das es kühl zu analysieren oder aus der Ferne zu bestaunen gilt, sondern ein Freund, dessen Lebensgeschichte er mit Respekt und Zuneigung erzählt. Sein Buch ist trotzdem weit entfernt von Lobhudelei: Neben Nichols' Schlagfertigkeit und Intelligenz, seinem Charisma und kollaborativem Geist kommen auch seine Arroganz, seine Reizbarkeit, sein gelegentliches Brechen der eigenen "Keine Arschlöcher am Set"-Regel vor und fügen sich zu einem vielschichtigen Porträt.

Es ist Harris' großes Verdienst, dass er genau ergründet, was Nichols zu einem so besonderen Regisseur machte. Da ist zunächst das Kindheitstrauma, das mit der Flucht aus Nazideutschland nicht vorbei war: In New York wuchs Nichols als Einzelgänger auf, war für die anderen Kinder nicht nur der Einwanderer mit deutschem Akzent, sondern auch noch, nach einer allergischen Reaktion auf eine Keuchhustenimpfung, ein Junge ohne Haare. Ihm blieb die Rolle des Beobachters. Er schaute sich genau an, wie die anderen sich verhielten, wie sie sich bewegten und sprachen, wann jemand einen Lacher bekam, und wann nicht.

Später an der University of Chicago hatte er sich eine spöttische, eloquente Persona zurechtgelegt und lernte dort in der Theatergruppe Elaine May kennen, den einzigen Menschen, der in Sachen Spott und Eloquenz mit ihm mithalten konnte. Nun griff er auf sein Studium menschlichen Verhaltens zurück, benutzte es in seinen Improvisationen und persiflierte die All-American-Boys, zu denen er gerne gehört hätte (die Perücken, die er nun trug, hatten blonde Haare). Nichols und May entwickelten einen gemeinsamen Act, machten ihre Figuren verwundbar, eitel, geil, gaben ihnen Ticks und Eigenheiten, spielten echte Menschen, keine Sitcom-Karikaturen, und sezierten die Verklemmtheit der Eisenhower-Ära.

Der Gründer der Theatergruppe wollte Brecht und Büchner, Nichols und May aber spielten Teenager auf dem ersten Date oder Hamlet im jüdischen Deli. Sie experimentierten mit der Form, begannen einen Streit auf der Bühne, der für Zuschauer zunächst nicht als Teil der Show erkennbar war, und waren mit ihrem neuen Ansatz so erfolgreich, dass sie schließlich nach New York gingen und schnell acht Shows die Woche spielten, vor sechstausend Menschen, und Schallplatten aufnahmen, die Nachwuchskomiker wie Woody Allen und Steve Martin auswendig lernen sollten. May schrieb die Witze, Nichols gab ihnen Form, so war die Arbeitsteilung. Sie war die Autorin, er der Regisseur.

Mit May entwickelte Nichols die Regeln, an denen er als Regisseur sein Leben lang festhalten sollte: Einen Witz nie witzig spielen, einen Lacher nie forcieren. Figuren durch ihre Handlungen charakterisieren. Jede Handlung auf emotionale Glaubwürdigkeit prüfen, Gags streichen, die dem im Wege stehen. Realismus durch Details. Nie das Publikum unterschätzen. Sich auf die Wahrheit konzentrieren. Fühlt es sich an, als lausche man den privaten Gesprächen sich unbeobachtet fühlender Menschen, dann ist man auf dem richtigen Weg. Das hatte es im amerikanischen Comedy-Kino vorher nicht gegeben. Wahrheit war neu.

Wie wenige männliche Filmemacher zeigt er komplexe Frauenfiguren

Lange bevor Bekenntnisse zu Diversität und Inklusion zum guten Ton gehörten, verzichtete Nichols auf den heterosexuellen Mann als Standard-Protagonisten. In der zweiten Hälfte seiner Filmkarriere arbeitete er, als einer der wenigen Filmemacher seiner Generation, vor allem mit Frauen zusammen, verfilmte mit Drehbuchautorin Nora Ephron und Hauptdarstellerin Meryl Streep die wahre Geschichte der unter ungeklärten Umständen verunglückten Gewerkschaftsaktivistin Karen "Silkwood" (1983) und später "Heartburn / Sodbrennen" (1986). Besonders stolz war er auf seine letzte Kollaboration mit Streep, die "Angels in America"-Adaption (2003), sein Denkmal für das von Aids zerstörte schwule New York.

Meryl Streep gehört zu den mehr als 250 Menschen, die Harris für seine Biografie interviewt hat. Virtuos führt er die Erinnerungen und Geschichten dieser vielen Weggefährten zusammen und verbindet sie mit einer sensiblen Autorenstimme zu einer großen Erzählung, die nicht nur die Geschichte eines Lebens, sondern auch die einer Industrie ist. Harris lässt Inkonsistenzen stehen, bietet bei Unklarheiten seine Interpretation der Dinge an, besteht aber nicht auf einer Deutungshoheit.

Aus dieser Vielstimmigkeit geht lebhaft hervor, wie mühelos, kollaborativ und geschäftig es an einem Filmset zugeht, wenn die Dinge funktionieren, und was für ein zermürbender Akt ein Filmdreh werden kann, wenn nichts klappt, zu wenig geprobt wurde, das Buch nicht stimmt, der Hauptdarsteller ständig betrunken ist, wenn alle wissen, dass das, was sie tun, nicht gut ist, sich das aber längst nicht mehr ändern lässt, und nun also alle gemeinsam untergehen müssen. Harris' Buch ist wie ein Mike-Nichols-Film: genau beobachtet und wahrhaftig, und dabei wahnsinnig witzig und von großer Unterhaltsamkeit.

Was Nichols angetrieben hat, wird in einer Passage besonders deutlich. "Wenn dich ein Zuschauer fragt, ,Warum zeigst du mir das?'", so wird er an einer Stelle zitiert, "dann brauchst du eine Antwort. ,Weil es witzig ist', zum Beispiel. Aber das reicht nicht als Antwort. Denn dann hangelst du dich von Witz zu Witz und dazwischen gibt es ein schreckliches Vakuum." Die richtige Antwort auf die Frage "Warum zeigst du mir das?" muss sein: "Weil es von dir handelt. Weil es von deinem Leben handelt. Dem Leben, das wir alle führen."

Mark Harris: Mike Nichols: A Life. Penguin Press, New York 2020. 688 Seiten, 35 Dollar (bisher nicht übersetzt).

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