Süddeutsche Zeitung

Buch von Julian Nida-Rümelin:"Es ist legitim, Grenzen zu ziehen"

In seinem neuen Buch philosophiert Julian Nida-Rümelin über die Ethik der Migration und fragt: Ist Integration wirklich sinnvoll oder gar ungerecht?

Von Bernd Kastner

Plötzlich ist meine Welt eine andere. Ich komme morgens ins Wohnzimmer, und dort sitzt ein Fremder. Er bittet, hierbleiben zu dürfen, in meiner Wohnung. Seinen Wunsch verstehe ich, der Fremde ist mir auch sympathisch, und dennoch schicke ich ihn weg. Das ist meine Wohnung! Ist das moralisch zu vertreten?

Julian Nida-Rümelin beschreibt diese fiktive Szene in Ich-Form in seinem Buch, in dem er über Grenzen nachdenkt. Er hat so eine Grenze gezogen, in seinem Zuhause, und davon ausgehend fragt er, welche Grenzen eine Gesellschaft, ein Staat ziehen darf. Eine sehr relevante Frage in diesen Zeiten. Der Philosoph und ehemalige Kulturstaatsminister im Kabinett Schröder entwirft darum herum eine "Ethik der Migration": "Es ist legitim, Grenzen zu ziehen." Das gelte für den einzelnen Menschen in seiner Privatsphäre wie auch für Bürgerschaften, die sich in einem Staat organisieren. Staaten dürfen nicht nur Grenzen ziehen, sie müssen es, der globalen Gerechtigkeit wegen, postuliert der Autor. Das Menschenrecht auf kollektive Selbstbestimmung lasse sich nur im Rahmen staatlicher Institutionen realisieren.

Grenzen zu öffnen für Menschen, die vor Krieg und Verfolgung fliehen, ist für Nida-Rümelin eine moralische Pflicht. Die zynische Abschreckungsstrategie, in Not Geratenen auf dem Mittelmeer nicht zu helfen, verletze "Grundprinzipien humaner Praxis". Die Provokation zum aktuellen Integrationsdiskurs aber folgt auf dem Fuß: Kriegsflüchtlinge sollten wieder zurückkehren in ihr Land, um beim Wiederaufbau zu helfen. Deshalb sei es "nicht sinnvoll", in deren Integration im Zufluchtsland zu investieren, es wäre sogar ungerecht: Die Zurückgebliebenen, die den Krieg erduldet und überstanden haben, würde man damit ein zweites Mal alleinlassen. Auf die konkrete Gegenwart übertragen heißt das: Die Syrer sollten zurückkehren, sobald Frieden ist in ihrem Land.

Man muss Nida-Rümelin nicht überall zustimmen, muss sich auch nicht unbedingt durch seine philosophischen Herleitungen kämpfen: Einige seiner Thesen sollten aber gerade jene zum Nachdenken bringen, die die uneingeschränkte Willkommenskultur predigen, egal, warum ein Mensch von A nach B wandert. "Ethisches Unrecht" nennt es der Autor, würde man sich nur um die Aufnahme der Geflohenen, aber nicht um eine Reform der Weltwirtschaft kümmern. Dort liege ein Schlüssel, um Ungerechtigkeiten und damit Fluchtursachen zu bekämpfen.

"Transkontinentale Migration ist kein geeignetes Mittel, um Armut und Elend in der Welt zu bekämpfen." Seine zentrale These führt wieder hin aufs Grenzziehen, und, verknüpft mit der ethischen Pflicht der Gleichbehandlung, in ein ethisches Dilemma. Dass ein Mensch seine Zukunft in einem reichen Land sucht, sei nicht zu kritisieren. Wie aber sollten sich die Bürger in den Zielländern verhalten?

Naheliegend wäre, die Ankommenden zu umsorgen. Das aber sei ungerecht, weil dies vor allem den Starken hülfe, denn nur sie schaffen die Migration; die Schwachen in den Auswandererländern blieben weiter vernachlässigt in Not und Elend. Das Postulat der Gleichbehandlung verlange, die Angekommenen so zu behandeln, wie die Zurückgebliebenen - sich also kaum um sie zu kümmern. Das aber hieße, eine enorme Ungleichheit zu schaffen zwischen den Einheimischen und den Migranten, was auch nicht in Ordnung ist. Was auch immer man tut, man verstößt gegen das Prinzip der Gleichbehandlung.

Auflösen ließe sich dieses ethische Dilemma nur, wenn der Norden den Süden nicht mehr benachteiligen würde und so ein Hauptgrund für Migration wegfiele. Kurzum, wenn die Welt gerecht wäre. Dazu gehöre ein fairer Ausgleich zwischen den Migrierenden, den Zurückgeblieben und den Aufnehmenden. In ethischen Postulaten zur Migrationspolitik skizziert Nida-Rümelin seinen Wunschweg in diese Welt. Es lohnt, diesen Traum zu denken.

Der Autor wird recht konkret in diesem Kapital und nimmt auch Bezug auf die vergangenen zwei Jahre in Deutschland, wenn er darauf hinweist, wie gefährlich für den inneren Frieden das Gefühl ist, der Staat kontrolliere die Zuwanderung nicht. Nur wenn der Staat steuere, wenn er Ghettobildung verhindere, bestehe die Möglichkeit, dass Zuwanderung von den Bürgern als Chance wahrgenommen werde. Migrationspolitik muss diskutiert werden, ähnlich wie andere Veränderungen, die eine Gesellschaft auf Generationen prägen, Gentechnik etwa. Redet miteinander, denkt über den Tag hinaus. Dieser Appell Nida-Rümelins ist so politisch wie philosophisch.

Julian Nida-Rümelin: Über Grenzen denken. Eine Ethik der Migration, Edition Körber-Stiftung, Hamburg 2017. 241 Seiten, 20 Euro. E-Book: 15,99 Euro.

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SZ vom 10.07.2017/jbee
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