"Dass Menschen andere Menschen so behandeln, will ich nicht hinnehmen. Ich erwarte Gerechtigkeit - für all jene, die arm und schutzbedürftig sind, die keine Stimme haben." Mit diesen Worten wird einer der Beschwerdeführer in der mündlichen Verhandlung vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in der Rechtssache "N.D. und N.T. gegen Spanien" zitiert.
Der Mann gehörte zu einer größeren Gruppe von Flüchtenden aus Subsahara-Afrika, die im August 2014 die Grenzanlagen der spanischen Exklave Melilla überwunden haben. Dabei handelt es sich um einen knapp 13 Quadratkilometer langen Landstreifen in Nordafrika, der bereits im 15. Jahrhundert vom kolonialen Spanien erobert wurde und bis heute zum europäischen Hoheitsgebiet gehört. Wer es hierher schafft, muss nicht den gefährlichen Weg über das Mittelmeer hinter sich bringen, um in den Geltungsbereich des Europäischen Rechts einschließlich der Europäischen Menschenrechtskonvention zu gelangen und einen Asylantrag stellen zu können. Bereits seit den 1990ern gibt es ein engmaschiges System von Grenzanlagen. Es wurde unter anderem von der Europäischen Union finanziert und soll genau diesen Zugang zum Recht verhindern.
Spaniens Abschiebepraxis dient den Innenministern als Labor ihrer Abschottungspläne
Die Beschwerdeführer wurden von der Guardia Civil, der nationalen Polizeitruppe Spaniens, zurückgeschoben und marokkanischen Grenzbeamten übergeben. Zu keinem Zeitpunkt hatten sie die Möglichkeit, ihre persönlichen Fluchtgründe darzulegen oder gar vor einem spanischen Gericht juristische Einwände gegen ihre Abschiebung zu erheben. Die Menschenrechtsorganisation "European Center for Constitutional and Human Rights" aus Berlin hat daher in Kooperation mit einem spanischen Anwalt die Vertretung von zwei Geflüchteten übernommen, um mit ihnen ihren Rechtsanspruch zu erstreiten.
Unwort des Jahres:Grundrechte, die zum Gewinnstreben erklärt werden
"Anti-Abschiebe-Industrie" ist das Unwort des Jahres. Wahrlich keine subtile Wahl, aber hasserfüllte, manipulative Sprache brüllt ja auch wieder, um das Denken zu verschieben.
Die spanische Abschiebepraxis gilt seit Langem als Labor für die Abschottungspläne der europäischen Innenministerien. Sogenannte "Push-Backs" sind keine Ausnahme, sondern die Regel an der spanisch-marokkanischen Grenze. Nur wurde die Grenzoperation dieses Mal von Journalistinnen und Journalisten dokumentiert.
Der EGMR hatte bereits im Jahr 2012 entschieden, dass neben dem Erreichen von europäischem Territorium die kontinuierliche effektive Kontrolle über die Betroffenen durch Hoheitsträger der Mitgliedsstaaten, etwa durch Polizeibeamte, genügt, damit die Europäische Menschenrechtskonvention zur Anwendung kommt. Anlass jener Entscheidung war ein Fall, der sich auf Hoher See zugetragen hatte.
Vor diesem Hintergrund muss der jeweilige Mitgliedsstaat ein Verfahren gewährleisten, in dem mögliche Verletzungen der Rechte aus der Menschenrechtskonvention zu prüfen sind, wenn eine Rückführung vorgesehen ist. Ob die betroffenen Personen überhaupt einen glaubhaften Anspruch auf Asyl haben, spielt für die Beurteilung der Rückschiebung an der Grenze keine Rolle. Die Grenzbeamten können keine Entscheidung über die Fluchtgründe treffen, weil sie die genauen Fakten zur Fluchtgeschichte nicht ermitteln können und nicht dafür zuständig sind, eine rechtliche Bewertung über die Voraussetzungen des Grundsatzes der Nichtzurückweisung aus Artikel 3 der Menschenrechtskonvention vorzunehmen. Um dies zu prüfen, müssen die Flüchtenden daher ihre Ansprüche in rechtlichen Verfahren vortragen können, in denen ihnen auch ein Rechtsbeistand zur Verfügung steht.
Ob jemand Schutz in Europa erhält, steht erst am Ende eines rechtsstaatlichen Verfahrens fest - "effektiven Rechtsschutz" nennt das der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte. Er umfasst auch das Verbot der Kollektivausweisung, wonach Menschen nicht pauschal in Gruppen abgeschoben werden dürfen, ohne dass ihre individuellen Gründe für einen Verbleib auf dem Territorium geprüft werden. Sammelabschiebungen an der Grenze ohne Rechtsverfahren sind in Europa rechtswidrig - dennoch finden sie statt. Aus diesem Grund ist das Rechtsverfahren vor dem EGMR paradigmatisch für die aktuelle europäische Migrationspolitik und von großer Bedeutung für ihre zukünftige Ausgestaltung. Denn immer wieder lassen sich die europäischen Regierungen etwas Neues einfallen, um Geflüchteten den Zugang zum Recht zu verwehren. So stellt sich im vorliegenden Fall die spanische Regierung auf den schlichten Standpunkt, es gebe kein Recht zur Einreise. Damit will sie zugleich alle Rechtsschutzansprüche und Schutzvorkehrungen beiseitewischen, zum Beispiel das Verbot der Kollektivausweisung. Just diesen Einwand erhob auch jüngst der deutsche Innenminister Horst Seehofer in Bezug auf die Schengen-Binnengrenzen. Mittlerweile werden dort Flüchtende ebenfalls ohne Rechtsverfahren nach Griechenland abgeschoben, obwohl auch die Dublin-Verordnung, welche die Zuständigkeit innerhalb der Europäischen Union regelt, bei "Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung" (Artikel 3 Absatz 2) Rechtsmittel gegen eine Entscheidung über Rückschiebungen vorsieht. Und auch an der ungarisch-serbischen Grenze sind Push-Backs an der Tagesordnung, nicht selten äußerst brutal.
Die europäischen Exekutiven versuchen seit Längerem, die Grenze als Institution der Entrechtlichung durchzusetzen. Es geht um die Frage der rechtsstaatlichen Grundlagen Europas an seinen Grenzen und das damit verbundene Legitimationsmodell politischer Herrschaft. Wenn hingegen jene Exekutiven von Rechtsstaat sprechen - etwa Horst Seehofer, als er die im Übrigen durchaus europarechtskonforme Nicht-Schließung der deutschen Grenze im Sommer 2015 als "Herrschaft des Unrechts" bezeichnete - wird der Rechtsstaatsbegriff ins Gegenteil verkehrt.
Wer sich wehren will, braucht einen Zugang zum Rechtssystem und auch einen Rechtsbeistand
Was hier unter "Rechtsstaat" verstanden wird, ist in Wirklichkeit das Gegenteil: das staatliche Gewaltmonopol, welches sich seit dem 16. Jahrhundert herausbildete, indem es die feudalen partikularen Gewalten zerstörte, eine einheitliche Verwaltung und Rechtsprechung etablierte und Staaten in die Lage versetzte, Kriege zu führen und eben auch Grenzen zu sichern. Die Errungenschaft des bürgerlichen Rechtsstaats bestand nun gerade darin, jenes gefährliche Gewaltmonopol, dem eine Tendenz zur politischen Verselbständigung innewohnt, umfassend an das Recht zu binden. Im Zuge der Revolution der subjektiven Rechte geschieht dies auch gerade durch individuelle Rechtsverfahren, in denen sich Betroffene staatlicher Gewalt mit juristischen Mitteln wehren können. Dazu benötigen sie einen tatsächlichen Zugang zu diesen Verfahren und die nötige Unterstützung durch einen Rechtsbeistand.
Doch damit ist nur die Hälfte der Geschichte erzählt. Denn die europäischen Nationalstaaten entstanden nicht nur als prekäre Rechtsstaaten im Inneren, sondern gleichursprünglich als Kolonial- und Terrorstaaten im Außenverhältnis. Der "Ausnahmezustand" war der Normalzustand der versklavten, ermordeten und erniedrigten kolonialisierten Menschen - man denke nur an den Genozid an den Herero während der deutschen Kolonialzeit.
Die territorialen Grenzen waren von Anfang an die Grenzen der rechtlichen Einhegung der Staatsapparate. In dieser Kontinuität steht die aktuelle Strategie der Unterminierung des Rechtsstaats. Auch deshalb ist die juristische Auseinandersetzung um Melilla von grundsätzlicher Bedeutung. Der Fall wird gegenwärtig vor der Großen Kammer des Gerichtshofs verhandelt, ein Urteil wird dieses Jahr erwartet. Die erste Instanz hat den Beschwerdeführern recht gegeben. Der Gerichtshof hat nun die Frage zu beantworten, ob die europäischen Grenzen auch die Grenzen des Rechtsstaats sind.
Die Politologin Sonja Buckel leitet an der Uni Kassel die Forschungsgruppe "Beyond-Summer15.eu". Maximilian Pichl ist ihr Mitarbeiter.