Süddeutsche Zeitung

Migrantenschicksal:Wo kommt ihr her

Nasrin Sieges Erlebnisse als Migrantenkind in den Sechzigerjahren unterscheiden sich nicht sehr vom Schicksal syrischer Flüchtlingskinder heute.

Von Regina Riepe

Angestarrt werden - das stört die elfjährige Shirin am meisten. Mit der Kälte und dem Wind in Hamburg kann sie leben, dagegen hilft ihr warmer neuer Mantel. Doch immer diese Blicke und die Fragen: Wo kommt ihr her? Warum seid ihr hier? Manchmal möchte sie am liebsten unsichtbar sein in dieser Stadt, wo alle Menschen eine hellere Haut haben und blond sind.

Seite für Seite begleiten die jungen Leser Shirin auf ihrem Weg in den neuen Alltag: Vom Hotel in die eigene Wohnung, Deutsch lernen, zur Schule gehen. Es ist für die Familie nicht einfach, der Vater ist oft gereizt und schimpft mit Shirin. Ob er Jungen lieber mag als Mädchen? "Zu Hause ist da, wo deine Freunde sind", singt der deutsche Popsänger Adel Tawil. Das könnte Shirin sofort unterschreiben - doch wie findet man Freunde, wenn alle einen als unerwünschte Fremde behandeln? In der Übergangsklasse für Ausländer war das noch anders, da kamen die Kinder aus allen Teilen der Welt. Doch die normale Schule macht es Shirin schwer. Besonders Irene legt es darauf an, sie zu demütigen und auszugrenzen. Sie ist die Wortführerin der Klasse, die anderen machen mit oder schauen weg. Einmal hat sie Shirin ein Geschenk mitgebracht, das sie ihr vor allen anderen in die Hand drückt: ein Stück rosa Seife! "Wenn du dich damit wäscht, wirst du weiß wie wir." Und der ganze Schulhof starrt auf Shirin und lacht.

Eine solche Szene kann man nicht erfinden. Die Autorin Nasrin Siege hat in ihrer Autobiografie Shirin ihre eigenen Kindheitserlebnisse verarbeitet. Sie war neun, als sie mit ihrer Familie Persien verlassen musste und nach Hamburg kam. Einfühlsam und sensibel erzählt sie in vielen kleinen Beobachtungen und Begegnungen das Ankommen von Shirin im deutschen Alltag, der alle verändert, Shirin genauso wie ihre Geschwister. Indem sie hier Freunde fanden, sich anpassten, Deutsch redeten und in Deutsch träumten wurden sie ihren Eltern fremd. Die Eltern ihrer älteren Freundin Sarih zogen die Notbremse und gingen nach Persien zurück, als Sarih einen deutschen Freund hatte. Shirins Vater findet das gut und droht auch seinen Töchtern mit der Rückkehr , falls "so etwas" passiert. Doch was am Anfang der Geschichte ein Traum war, ist für Shirin jetzt nicht mehr vorstellbar. Sie fühlt sich wohl in Hamburg. Wo gehöre ich hin?, fragt sich das Mädchen am Ende des Buches? Nach Persien ? Nach Deutschland? Oder einfach in die Welt? Dabei fällt nicht ins Gewicht, dass es die Geschichte einer Kindheit in den Sechzigerjahren ist. Flüchtlingskinder aus Syrien oder dem Irak erleben heute noch ganz ähnliche Situationen.

Es ist erfreulich, dass die Autorin die Geschichte von Shirin nach zehn Jahren noch einmal gründlich überarbeitete und der Razamba Verlag ein ansprechendes Buchcover gewählt hat. Die Neufassung ist literarischer geworden, noch besser erzählt als in der Erstfassung. Und die Erlebnisse von Shirin sind leider noch genauso aktuell wie in den Neunzigerjahren.

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Quelle:
SZ vom 21.08.2015
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