"Brüste und Eier" von Mieko Kawakami:Feministische Weltliteratur

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Mieko Kawakamis Roman beschreibt, welche Kraft es Frauen kostet, sich von den Normen einer patriarchalen Gesellschaft zu befreien. (Foto: Wakaba Noda)

Mieko Kawakamis Roman "Brüste und Eier" erzählt von der patriarchalen japanischen Gesellschaft - aus der Perspektive einer Frau am Existenzminimum.

Von Juliane Liebert

Manche Cover sind ein Verbrechen. Das hier zum Beispiel. Kirschblüten, Michelangelos sixtinische Adamspforte, makelloser, sich keusch rekelnder Frauenkörper und Schmetterlinge vor Himmelblau? Zum Glück kann die grausige Verpackung Mieko Kawakamis Roman nichts anhaben.

Mit feiner literarischer Technik und doch im besten Sinne schlicht erzählt sie von Natsuko Natsume, oder besser gesagt: lässt diese selbst erzählen. Von ihrem Leben, ihrer Familie und den wenigen Menschen, die sie näher kennenlernt. Dem sommerlichen Namen angemessen, denn Natsu bedeutet auf Japanisch Sommer, beginnt die Geschichte in der brütenden Augusthitze des Jahres 2008. Die ältere Schwester Makiko und deren zwölfjährige Tochter Midoriko sind zu Besuch in Tokyo. Aus Osaka, wo die Schwestern in schwierigen Verhältnissen aufwuchsen.

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"Wenn man wissen will, wie arm jemand war, fragt man ihn am besten, wie viele Fenster die Wohnung hatte, in der er aufgewachsen ist", lautet der erste Satz. "Brüste und Eier" ist nicht allein ein Buch über Frauen, sondern ganz wesentlich ein Buch über sozialen Status - und damit über Geld. Der Preis noch des kleinsten Einkaufs im Conbini (die japanischen 24/7-Läden, weltberühmt geworden durch Sayaka Muratas Roman "Die Ladenhüterin") wird verzeichnet. Nach ein paar dutzend Seiten googelt man den Wechselkurs Yen/Euro und denkt an Dostojewski, bei dem der Rubel stets eine tragende Rolle spielt. Kawakami wählt für ihr Gesellschaftsbild die Froschperspektive der Frau am Rande des Existenzminimums.

Natsuko, gerade dreißig geworden, wohnt seit zehn Jahren in derselben bescheidenen Bude. Sie schlägt sich mit Zeitarbeitsjobs durch, hegt schriftstellerische Ambitionen, ohne diese jedoch zielstrebig zu verfolgen. Makiko hält sich als Hostess in einer Bar über Wasser, geht auf die vierzig zu und hat sich in die fixe Idee verrannt, ihre Brüste per OP zu optimieren. Ein Wunsch, der ihre finanziellen Mittel bei Weitem übersteigt. Ihre Tochter spricht seit Wochen nicht mit ihr, sorgt sich aber im Stillen um die Mutter. Midoriko hadert damit, wie ihr Körper sich zu verändern beginnt. Sie schreibt unaufhörlich in ein Notizbuch.

Natsuko ist weder Revolutionärin noch Intellektuelle, sondern menschenfreundliche Einzelgängerin

Ihre Aufzeichnungen über die (noch ausstehende) erste Monatsblutung und die philosophischen Abgründe der Fortpflanzung sind kursiv gedruckt in den Text montiert. Ein narrativer Kniff, der funktioniert, weil der Ton authentisch ist: "Was für eine beängstigende, schreckliche Vorstellung! Dass schon vor meiner Geburt in mir die Grundlage für neues Leben existiert. Noch dazu in solchen Mengen!"

So unschuldig radikal denken nur kluge Mädchen in der Pubertät. Das zweitägige Familientreffen mündet in ein dramatisches Finale, von dem nur so viel verraten sei, dass nicht mehr ganz frische Hühnereier zum Medium der Katharsis werden. Mit Natsuko hat Mieko Kawakami eine aufmerksame, zurückhaltende, von ihrer Herkunft tief geprägte Erzählerin erschaffen. Keine Revolutionärin oder larmoyante Intellektuelle, sondern eine im Grunde menschenfreundliche Einzelgängerin. Darum bemüht, halbwegs klarzukommen, aber unfähig, in der Lüge zu leben.

Weibliche Körpererfahrung, erzählt mit beiläufiger Genauigkeit

Kawakami rhythmisiert die Orientierungssuche ihrer Protagonistin mithilfe der Jahreszeiten, arbeitet mit subtil variierten motivischen Reprisen, etwa wenn ein Riesenrad im ersten und im zweiten Teil zum Schauplatz einer wichtigen Szene wird. Sie zeigt damit das Leben, allen Zwängen zum Trotz, in leisem Optimismus als gleichermaßen zyklischen wie offenen Prozess.

Mieko Kawakamis Roman "Brüste und Eier". (Foto: Dumont Buchverlag)

Weibliche Körpererfahrung vom Pinkeln bis zum Schweißausbruch dokumentiert sie mit beiläufiger Genauigkeit, ohne provokativen Gestus. Die Vielzahl an Details aus dem japanischen Alltag, vom Essen bis zu den Stadtvierteln, erzeugt einen fast immersiven Effekt. Im Original wird oft der Osaka-Dialekt verwendet, Katja Busson vollbringt als Übersetzerin Höchstleistungen, um die verschiedenen Sprachebenen im Deutschen sichtbar zu machen. Auch robuster Witz gehört zum Repertoire. Natsuko fühlt sich etwa beim Blick in den Spiegel an "geschmorte Auberginen" erinnert.

Welche Kraft es kostet, sich von den Normen zu befreien

Aber Kawakamis größte Stärke als Autorin liegt vielleicht darin, im richtigen Moment vom unterhaltsamen, vielstimmigen Dialogstil und gelegentlich etwas zu wortreichen Ereignisbericht in die Anschauung zu wechseln. "Midoriko hatte die Stirn am Fenster und sah nach unten", heißt es in einer Riesenradszene, "dann rutschte sie auf die andere Seite, wo sie wieder die Stirn ans Fenster presste. Ihr Pferdeschwanz war so locker, dass sich das Haar im Nacken bauschte." Die Schwelle zum Erwachsenwerden, der Moment, wenn die Kindheit zu flackern beginnt, ist hier in einer einfachen, auf jegliche Sexualisierung verzichtenden Beschreibung verdichtet. Und das in einem Roman, der "Brüste und Eier" heißt. Man könnte, denn geschrieben wurde er von einer Frau, noch über Feminismus sprechen. Über das patriarchale Japan, denn dort spielt die Handlung, und welche Kraft es Frauen kostet, sich von den Normen dieser Gesellschaft zu befreien.

Alternativvorschlag: Sprechen wir über Weltliteratur. Kaum ist es gesagt, breitet sich eine würdevolle Schwere im Hirn aus. Nobelpreise ziehen vorüber, magische Realisten, die ihrerseits für Brüste und Eier brennen, nur anders halt. Vor allem ist Weltliteratur jedoch Literatur, die von einem spezifischen Kultur- und individuellen Erfahrungsraum so eigenwillig erzählt, dass es alle Menschen und sonstigen Lebewesen, die denken und fühlen können, etwas angeht. In diesem Sinn ist, besser: sind "Brüste und Eier" Weltliteratur.

Mieko Kawaka mi : Brüste und Eier. Roman. Aus dem Japanischen von Katja Busson. Dumont, Köln 2020. 496 Seiten, 19,99 Euro.

© SZ vom 26.08.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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