Kehren zwei Heldenfiguren, beide in der Fremde zu Ruhm gekommen, zur selben Zeit in ihre Heimatstadt zurück und konkurrieren sofort miteinander. Kommt ein frühreifer Newcomer dazu, macht süße Komplimente – und versucht, beide zu beerben. Klingt wie etwas, das man auf Netflix sehen kann? Ist etwas, das man in den Ausstellungsräumen der Royal Academy of Arts in London gesehen haben sollte, solange es noch geht.
Royal Academy in London:Entschlüsselung eines Labyrinths
Der Architekt David Chipperfield hat bei der Sanierung der Royal Academy den Gebäudekomplex neu erfahrbar gemacht.
Denn Michelangelo, Leonardo und Raffael, die drei bedeutendsten Künstler der Renaissance, in denselben Räumen, noch dazu mit ohnehin nur selten ausgestellten Arbeiten: Das kommt so schnell nicht wieder – wenn überhaupt jemals. Es ist ein Gipfeltreffen der Giganten, und die Kuratoren der Royal Academy haben es tatsächlich geschafft, so etwas wie einen Superheldenplot der Kunstgeschichte zu identifizieren, noch bevor Florian Illies darauf kam. Schauplatz ist Florenz, wo sich 1504 die Wege der drei kreuzten.
Schon die Liste der Nebenfiguren ist klangvoll genug: Neben Leonardo da Vinci saßen auch Leute wie Sandro Botticelli, Filippino Lippi und Piero di Cosimo in der Kommission, die damals beriet, wo Michelangelos kurz zuvor fertiggestellte Monumentalskulptur des David aufgestellt werden sollte. Der Koloss hatte damals bereits Weltwunderstatus, auch weil er ja aus einem Marmorblock herausgehauen war, den ein Bildhauerkollege zuvor verhunzt hatte. Michelangelo wurde schon dafür gerühmt, dass er das Handicap sportlich nahm und zeigte, was trotzdem noch drinsteckte, nämlich die erste frei stehende überlebensgroße Figur seit der Antike, noch dazu lässig auf Standbein und Spielbein. Monumentalität, heroische Nacktheit und ausgeruhte Aktionsbereitschaft: Die Florentiner waren sich weitgehend einig, dass hier einer die Kunst des Altertums sogar noch übertroffen habe.

Leonardo da Vinci macht sofort eine Zeichnung von der gefeierten Skulptur. Dabei wird aber aus dem eher leichtathletisch geformten Schlaks von Michelangelo ein massiver Gewichtheber, was tatsächlich mehr im Einklang mit den klassischen Proportionen der Antike stand. War das also noch eine Hommage – oder schon eine Schulmeisterei durch den älteren Kollegen? Michelangelo war 29 damals und kam als erfolgreicher Bildhauer aus Rom in seine toskanische Heimat zurück. Leonardo war 52 und galt bereits als Universalgenie, als er kurz zuvor aus Mailand heimgekehrt war. Das berühmte „Abendmahl“ hatte er bereits auf dem Tacho, die „Mona Lisa“ war gerade in Arbeit, und obwohl sein künstlerisches Metier also die Malerei war, fand er offensichtlich, dass er auch im Bereich der klassischen Skulptur manches dann doch noch besser wusste als der junge Bildhauer, der da jetzt solche Erfolge feierte.
Als wenig später auch der erst 21 Jahre alte Raffael, eben aus Perugia zugewandert, den David abzeichnet, wird vor allem eine Anbetung des Hinterteils daraus, so als sei der die eigentliche Essenz des Ganzen. Außerdem brachte er die bei Michelangelo absichtlich übergroßen Hände und Füße auf menschliche Normalgröße. Auch das war letztlich eine in Ehrerbietung verpackte Kritik an dem, was Michelangelo nun genau zum Kern seiner Kunst gemacht hatte, nämlich die Rhetorik des Dehnens, Stauchens und Verdrehens von Körperformen.

Michelangelo hatte seinerseits Vorbehalte gegen Leonardo und warf dem Älteren Verzagtheit bei beruflichen Entscheidungen vor. Das Verhältnis der beiden war mit anderen Worten offenbar respektvoll, aber angespannt. Und das dürfte sich nicht geändert haben, als Michelangelo nach seinem Erfolg mit dem David von der Florentiner Obrigkeit in die direkte Konkurrenz mit Leonardo geschickt wurde. Denn der war seit einem Jahr damit beauftragt, für den neuen großen Ratssaal, die Sala del Gran Consiglio, ein großes Wandgemälde zu schaffen, das den historischen Sieg der Florentiner gegen die Mailänder in der Schlacht von Anghiari feiern sollte. Michelangelo, der erst später im Vatikan auch als Freskenmaler reüssieren sollte, war nun gebeten worden, auf der gegenüberliegenden Wand einen anderen Sieg der Florentiner zu verherrlichen, den gegen die Pisaner bei Cascina.
Maria, Nackter und Kellner: Solche surrealistischen Zufallsbegegnungen sind nur in Zeichnungen möglich
Am Ende ist es ein Kampf zwischen zwei Kampfszenen: Wie soll Michelangelo mit der extremen Actionszene von Leonardo mithalten, mit Reitern mitten auf dem Höhepunkt des verbissenen Kampfes? Seine Antwort: gar nicht. Er nahm stattdessen den Augenblick vor der Schlacht, als der Alarm die nackten Krieger erreicht. Kinetisches Drama von Pferden, Schwertern und Grimassen der Wut vs. rhetorisches Ballett der Körper. (Raffael sollte beide fleißig abzeichnen und später in seinen Fresken im Vatikan zur Synthese bringen.)
Beide Bilder sind heute so etwas wie die Bernsteinzimmer der Renaissance, nur durch Vorstudien und Kopien anderer überliefert, denn Leonardos Schlachtenbild wurde übermalt, Michelangelos nie realisiert.

Allerdings war der zu der Zeit auch gut damit ausgelastet, wohlhabende Privatkunden mit Madonnendarstellungen zu versorgen, was nun wiederum ein Geschäft war, in dem der junge Raffael wie am Fließband produzierte. Dabei konnte man ihm die Massenproduktion an Madonnen als solche noch nicht einmal vorwerfen, denn eine geriet ihm dabei ja schöner als die andere. Und es hat ihm nicht geschadet, dabei bei dem Älteren Maß zu nehmen, wie die Gegenüberstellung von Michelangelos „Taddei Tondo“ (aus dem Besitz der Royal Academy) mit Raffaels sogenannter „Bridgewater Madonna“ (zu Gast aus der Schottischen Nationalgalerie in Edinburgh) zeigt: das verschraubt auf dem Schoß der Mutter sich windende Jesuskind ist eine direkte Übernahme.
Daher hat man in London nun die bemerkenswerte Situation, dass neben den virilsten Kampfszenen der Kunstgeschichte einige der zärtlichsten Mutter-und-Kind-Konstellationen hängen. Und oft genug hat man auf einem Blatt auch Skizzen von beidem.
Es gibt da etwa eine von Michelangelo, auf der die Jungfrau beim Stillen des Jesuskindes scheinbar verträumt zu einem muskulösen, nackten Jüngling herüberschaut, der sich, quergelegt, ebenfalls auf dem Blatt befindet, und dazwischen noch die Karikatur eines Kopfs, Typus augenrollender Kellner. Solche fast schon surrealistischen Zufallsbegegnungen sind eigentlich nur im Medium der Zeichnung möglich. Man sieht dabei auch, dass das Wort Studie wirklich von Studieren kommt. Was Michelangelo auf dem Blatt eigentlich umtrieb: sich bei Leonardo etwas über das unmögliche Verhältnis einer „Anna selbdritt“ abzuschauen, diesem irren Bildtypus, bei dem Maria samt Kind auf dem Schoß ihrer eigenen Mutter Anna sitzt.

Michelangelo hatte es kurz zuvor geschafft, in seiner „Pietá“ den toten Jesus einer Maria auf den Schoß zu legen, die keinen Tag älter scheint als ihr Sohn. Aber wenn Mutter und Großmutter offensichtlich ebenfalls gleichaltrig sind, ist das mit dem plausiblen Auf-dem-Schoß-Sitzen noch einmal eine andere Sache. Leonardo hat auf seinem berühmten Karton mit Maria, Anna, Jesus und dem kleinen Johannes dem Täufer gezeigt, wie es trotzdem geht, ohne seltsam auszusehen. Das war die detaillierte Kohlestudie für ein Altargemälde, das womöglich ebenfalls im großen Ratssaal hängen sollte, aber nie gemalt wurde.
Kunsthistoriker heute relativieren, was früher zu epischen Konflikten zwischen Künstlern dramatisiert wurde
Der Karton, der heute in der National Gallery verwahrt wird, ist auch unter dem Namen „Burlington House Cartoon“ bekannt – also unter der Adresse der Royal Academy. Und das wiederum mag schon einmal zart andeuten, warum eine solche Ausstellung in London überhaupt möglich ist: weil die diese Sachen dort haben. Ein beträchtlicher Teil der Zeichnungen hier trägt den Eigentumsvermerk „Seine Majestät König Charles III.“. Und wer viel hat, dem wird auch üppig von außerhalb geliehen.

Dass man die empfindlichen Zeichnungen nicht allzu oft und dann auch nicht allzu lange dem Licht der Öffentlichkeit aussetzen mag, hat schon konservatorische Gründe. Wenn es dann aber mal so massiv geschieht wie hier, dann sind Handzeichnungen dieser drei im Grunde sogar noch aufregender als ihre ausgeführten Werke. Der Kurzschluss zwischen Hirn und Hand, das Suchende, das Dynamische, das Spielerische und die atemberaubende Formsicherheit dieser Finger: Noch näher kann man Leuten, die jetzt schon seit einem halben Jahrtausend als Genies gelten, kaum kommen.
Allein der Vergleich der jeweiligen Schraffier-Technik kann einen hier bei genauer Betrachtung in Verzückung setzen. Das hat nahezu etwas Musikalisches, wie die Volumen von Armen oder Beinen durch routinierte Reihung von kurzen Auf- oder Abstrichen angedeutet werden – bisschen so, als ob Streicher was von Vivaldi spielen oder Gitarristen Hardrock.
Kunsthistoriker verbringen heute viel Zeit damit, wieder zu relativieren, was früher gern zu epischen Konflikten zwischen Künstlern dramatisiert wurde. Aber ein gewisses Maß an Auseinandersetzung ist nun einmal unvermeidlich, wenn drei Männer wie diese aufeinandertreffen. Und einen Gewinner gab es am Ende ja auch: jeden einzelnen Betrachter.
„Michelangelo, Leonardo, Raphael – Florence, c. 1504“ in der Royal Academy London, bis 16.2., Katalog 40 GBP