In der Kunst wird der Irrsinn des Finanzkapitalismus plastisch. Am Ende des Buches verkauft Jed Martin, die Hauptfigur, sein letztes Bild für zwölf Millionen an einen indischen Handyunternehmer. Doch da widmet er sich längst nur noch Videogrammen, in denen von der Welt nichts als sich im Wind wiegende Gräser übrigbleiben. Der Kunstmarkt wird "schon seit langem von den reichsten Geschäftsleuten der Welt beherrscht", stellt Jeds Galerist Franz fest, "wir sind in die Epoche der Hofmalerei des Ancien Régime zurückgefallen".
Kunst und Markt: Jed Martin, Künstler und Hauptfigur aus "Karte und Gebiet" versucht die Wirklichkeit zu ästhetisieren, indem er graphische Reliefe eines Straßenatlasses hervorhebt.
(Foto: DuMont Buchverlag)Wie gewohnt geraten in Michel Houellebecqs neuem Roman die Mechanismen des Marktes in grelles Licht. Und doch ist er alles andere als zynisch. Houellebecq trifft seine Leser an einer völlig unerwarteten Stelle. Er hat einen tiefgründigen und wissenden Künstlerroman geschrieben, voll postmodernem Ernst. Es ist wie bei einem makellosen Gemälde. Je genauer man hinsieht, desto vieldeutiger und widersprüchlicher werden die scheinbar mühelos decodierbaren Details.
Jed Martin hat zwar an der Pariser Kunstakademie studiert, sich aber von den narzisstischen Riten des Milieus ferngehalten. Er lebt isoliert, und den Kommunikationsversuchen mit seinem drohend grummelnden Heizkessel gewinnt Houllebecq irrlichternde, verquer sehnsüchtige Funken ab. Auf einer Sammelausstellung präsentiert Jed ein Foto, das einem einsamen Impuls entsprungen ist: Er nimmt Ausschnitte aus dem Michelin-Straßenatlas und hebt das graphische Relief von Tälern und Gebirgen, Straßen und Flüssen durch technische Bearbeitungen hervor, unter dem Titel: "Die Karte ist interessanter als das Gebiet".
Ohne, dass dies näher ausgeführt werden würde, steckt in diesem Titel eine alte Sehnsucht, die Vision, in der Realität eine ästhetische Dimension aufzuspüren und sie dadurch auf ungeahnte Weise zu durchdringen. Jed Martin ist der Entwurf eines von den Usancen des Kunstbetriebs unabhängigen Künstlers - ohne jede ironische Distanz.
Der Coup Houellebecqs ist allerdings, dass er dieser Künstler-Imago einen Doppelgänger zur Seite stellt, einen Schriftsteller, der "Michel Houllebecq" heißt. Die Figuren Jed Martin und Michel Houellebecq treten in eine anspielungsreiche Beziehung, es ist eine Figuren-, eine Ich-Aufspaltung wie in der deutschen romantischen Tradition. "Michel Houellebecq" zeigt etliche Züge des öffentlichen Bildes dieses bekannten Schriftstellers, eine sich selbst inszenierende Kunstfigur, die sich effektvoll auf die Gesellschaft einlässt und ihre voyeuristischen Bedürfnisse bedient, bis hin zu einem perfekten Tod. Jed Martin hingegen ist der "reine" Bruder, der romantische Gegenentwurf, der nicht von gesellschaftlichen Zwängen korrumpiert ist.
Mit diesem Doppelmodell sichert Houellebecq den Versuch ab, in der Figur des Jed Martin die Möglichkeiten durchzuspielen, heute "authentisch" zu sein. Jeds Vater etwa ist wie ein Spiegel: ein Architekt, der ursprünglich ebenfalls künstlerische Ambitionen hatte und an der kruden bürgerlich-kapitalistischen Realität abgeprallt ist; letztlich entwarf er Feriensiedlungen. Der Vater, krebskrank, nimmt zum Schluss heimlich die Dienste des Sterbehilfeunternehmens Dignitas auf, und es wirkt wie ein unwillkürlicher Aufstand gegen die vorgegebene Maschinerie des Todes und des Lebens, als Jed davon erfährt und eine Dignitas-Angestellte niederschlägt.
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