Michel Houellebecq:Leiden am Kapitalismus

French author Michel Houellebecq presents

Was, wenn ich nicht denke? Der französische Schriftsteller Michel Houellebecq

(Foto: Andreu Dalmau/dpa)

Bernard Maris starb beim Überfall auf "Charlie Hebdo". Sein letztes Buch deutet Michel Houellebecq als Ökonomen.

Von Andreas Zielcke

Liebe macht blind, heißt es. Doch Verehrung und Begeisterung schaffen das auch, allzu gerne stellt sich der Verstand zu ihren Gunsten zurück. Aber ist es schon was Besonderes, wenn ein Ökonom einen Schriftsteller zum Ökonomen hochlobt und dafür seinen Sachverstand wie einen Businessmantel an der Garderobe abgibt?

Doch wir sind in der französischen Geisteswelt, und da hat solche intellektuelle Hingabe ihre eigene Bewandtnis. Bernard Maris, Verfasser von "Michel Houellebecq, Ökonom" (in Frankreich vorigen Herbst erschienen), hatte nicht nur gleichzeitig Professuren an der Université Paris VIII, an der University of Iowa und an einem Institut der Zentralbank von Peru inne, sondern war seit 2011 auch Mitglied des Aufsichtsrats der Banque de France, also ein anerkannter Experte seines Fachs. Französisch daran ist, um das Klischee einmal mächtig zu strapazieren, dass Maris zugleich ein Verächter seiner Zunft war, ein exponierter Kapitalismuskritiker - was vor allem seine Zugehörigkeit zur Banque de France fast surreal erscheinen lässt.

In Frankreich geht das ohne viel Aufhebens, was einiges über das souveräne libre-pensée, das freigeistige Räsonnement in diesem Land besagt, aber auch über das folgenlose Nebeneinander von Kritik und Affirmation. Maris schrieb außerdem Romane und regelmäßig, als "Onkel Bernard", Kolumnen in Charlie Hebdo. In der Redaktion des Blatts wurde er bei dem Terroranschlag am 7. Januar dieses Jahres getötet.

Hat Houellebecq wirklich eine agitatorische "Poetik am Ende des Kapitalismus" im Sinn?

Am selben Tag war das Heft mit einer Karikatur Houellebecqs auf dem Titel herausgekommen, parallel zum Verkaufsstart von dessen jüngstem Roman "Unterwerfung". Natürlich konnte Maris die darin ausgemalte Vision der Wandlung Frankreichs zum islamischen Staat in sein Buch nicht mehr einbeziehen. Das ist schade, da diese so heftig Staub aufwirbelnde Vision ja auch die Ökonomie des Landes umfasst (schon allein, weil Frauen wieder vom Arbeitsmarkt verschwinden).

In der McCarthy-Ära der Fünfzigerjahren machte ein amerikanischer Psychiater sehr erfolgreich Stimmung gegen die bei Jugendlichen aufkommende Begeisterung für Comics, indem er die Pulp- und Superhelden-Serien als "seduction of the innocent" brandmarkte, als Verführung Unschuldiger. Während dies heute keiner mehr nachvollziehen kann, ist einem der umgekehrte Fall durchaus vertraut: die Verführung Schuldiger. Allerdings fallen hierunter keine Vergehen gegen die Moral, sondern gegen den Geist - etwa durch Schriften wie diese von Maris. Sie wollen nicht den, der anders denkt, mit bezwingenden Gründen zu sich herüberziehen, sie wollen vielmehr den, mit dem man längst ideologisch das Lager teilt, wieder und wieder hinreißen und emotional fesseln. Es geht um bestätigende Affektion, nicht Argumentation.

So polemisiert, schimpft und spottet Maris über den Kapitalismus, als müsse man diesen nur noch der Lächerlichkeit preisgeben, um sich endlich seiner hohnlachend entledigen zu können. In der Tat findet Maris in Houellebecqs Romanen und Schriften genügend provokante, verächtliche Beschreibungen wirtschaftlicher Umtriebigkeiten und Invektiven gegen das Geld, den Neoliberalismus, den Konsumwahn, gegen unfähige Führungskräfte und andere Plagen der Wirtschaftswelt. Doch heißt dies, dass Houellebecq damit eine agitatorische "Poetik am Ende des Kapitalismus" im Sinn hat? Oder gar, dass der Schriftsteller damit richtig läge?

Weder noch. Keiner weiß wohl besser als Maris, wie verfehlt es wäre, die Aussagen von Houellebecqs Protagonisten mit dessen persönlichen Ansichten gleichzusetzen. Tatsächlich sind die Romanfiguren wesentlich kritischer eingestellt als der trotz seines clochardhaften Habitus doch überaus angepasste Houellebecq selbst. Geradezu sündenstolz stellte der für seine eigene Person heraus (man lese nur sein unter dem Titel "Volksfeinde" 2009 erschienenes Streitgespräch mit Bernard-Henri Lévy), welch ausgemachter Egoist er sei, politisch konservativ, mit starkem Faible für Sarkozy und ebenso starker Aversion gegen die Sozialisten. Bei der Wahl zwischen Unrecht und Ordnung schlage er sich, analog zu Goethes berühmtem Diktum, grundsätzlich auf die Seite der Ordnung. Bei aller Koketterie und Lust zum Affront, die hier durchschlagen, scheint ihm nichts ferner zu liegen als antikapitalistisches Aufwiegeln. Auch seine Romanfiguren tun das nicht wirklich, sie leiden an einer degenerierten gesellschaftlichen Umwelt, die nicht zuletzt an ihrer Arbeits- und Wirtschaftsweise krankt.

Hier schließt sich das Missverständnis an. Maris interpretiert die Tristesse, das gesamte kulturelle und moralische Elend, die Houellebecqs Romanwelt in immer neuen Schattierungen grundieren, als Symptome des Kapitalismus. Alles, der herrschende Egoismus, die Vereinsamung der Akteure, ihre Entfremdung, ihre Amoral, ihre Ziellosigkeit oder Obsession, ihre sexuelle Zügellosigkeit oder Verklemmtheit, ihre Infantilisierung durch Konsum oder auch die Verschandelung der Städte, alles steht für die Miserabilität der Ökonomie.

Nicht dass Houellebecqs literarische Helden oder, besser gesagt, Jammergestalten und Antihelden solcher zornigen Vereinfachung keinen Zucker gäben. Auf "Geld", "Neoliberalismus", nötigende Werbung, brutalen Wettbewerb, gnadenlose Vermarktung der sexuellen Attraktivität machen sie sich häufig genug ihren bitteren oder zynischen Reim, doch meist mit sehr bescheidenem Sinn und Verstand für ökonomische Zusammenhänge. Das Eingeständnis von Michel im Roman "Plattform", "ich habe noch nie was von Wirtschaft verstanden", trifft auf die allermeisten Protagonisten zu.

Im Unterschied etwa zu dem brillanten Roman "Johann Holtrop" von Rainald Goetz liefern Houellebecqs Schlüsselfiguren daher keine ökonomischen Einsichten in den Kapitalismus, sie liefern Leidensmerkmale, Neurosen, Narben, Spuren und Zeichen für das Unbehagen an ihm. Das ist nicht wenig. Nur spricht man dann über Erfahrungen mit der Unkultur einer durchökonomisierten Welt, nicht über die Ökonomie selbst.

Wirtschaftswissenschaft, eine "Pseudowissenschaft" von konzeptioneller Nichtigkeit?

Dass Kulturpessimismus das Wissen um die ökonomischen und sozialen Wirkungsgesetze des Kapitalismus nicht ersetzen kann - darum schert sich ausgerechnet der Experte Maris nicht. Entsprechend verkürzt, unhistorisch, maßlos sind seine Aussagen und Parolen: Wirtschaftswissenschaft ist eine "Pseudo-Wissenschaft, deren mathematischer Hyperbolismus ihre konzeptionelle Nichtigkeit kaschiert"; "die Gesellschaft wird von der Wirtschaft getötet"; "Führungskräfte sind jämmerlich wie Kinder, ebenso gemeine, launische, quengelnde, schreiende kleine Luder".

Doch die Attacken, die generell "das Geld", "die Wirtschaft", "den Markt", "die Angestellten" treffen sollen, machen begrifflich keinerlei Unterschied zwischen schlichtesten Marktwirtschaften in früher Zeit und dem heutigen Kapitalismus, zwischen einfachen Funktionen des Geldes und den heutigen, zumal in Zeiten des Finanzkapitalismus, überhaupt zwischen "Wirtschaft" und "Kapitalismus". Die Erlösungsideen der Romane sind leider von bestürzender Naivität. Liebe, Güte, Kunst - und Frauen (die "unendlich uneigennütziger und sanfter sind im Vergleich zu Männern"), nur in diesen Spielräumen reiner Zweck- und Selbstlosigkeit findet die Menschheit ihr Glück und Seelenheil wieder. Kurz vor dem Ende seiner Philippika sagt Maris, dass "diesen kleinen Essay natürlich ein verschmitztes Lächeln durchzieht". Wäre man aufgefordert, einen einzigen Satz aus dem Buch beim Wort zu nehmen, dann diesen.

Bernard Maris: Michel Houellebecq, Ökonom. Eine Poetik am Ende des Kapitalismus. Aus dem Französischen von Bernd Wilczek. Dumont Buchverlag, Köln 2015. 142 Seiten, 18,99 Euro.

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