Michael Sorkin: 250 Dinge, die Architekt:innen wissen sollten:Ein unmöglicher Beruf

Michael Sorkin: 250 Dinge, die Architekt:innen wissen sollten: Für Michael Sorkin sollten Architekten auch wissen, wie man ein Musikinstrument spielt.

Für Michael Sorkin sollten Architekten auch wissen, wie man ein Musikinstrument spielt.

(Foto: Antje Kunstmann Verlag)

Der New Yorker Architekt und Architekturtheoretiker Michael Sorkin war auch ein verehrter Lehrer. Sein letztes Buch ist ein famoses Lehrbuch - nicht nur für angehende Meisterbauer.

Von Laura Weißmüller

"Zweihundertfünfzig Dinge, die Architekt:innen wissen sollten" steht in fröhlich bunten Buchstaben auf dem eleganten hellgrauen Cover und während man sich noch wundert, wie das denn gehen soll, 250 Dinge in einem derart handlichem Format, wird man schon mit den ersten paar Seiten von Michael Sorkins letztem Buch eines Besseren belehrt: Denn diese Publikation ist ein Kondensat an brillanter Architekturlehre, sozusagen ein Haiku über die Liebe zu Orten, an denen sich Menschen wohlfühlen. Gleichzeitig ist es aber auch genau deswegen ein Bekenntnis: Dass der Beruf einer Architektin und eines Architekten eigentlich ein Wahnsinn ist, weil er suggeriert, man könne aufgrund seines Wissens etwas entwerfen, wo sich ein anderer Mensch wohlfühlt, vielleicht sogar sein Leben lang.

Michael Sorkin: 250 Dinge, die Architekt:innen wissen sollten: Der New Yorker Architekt, Stadtplaner, Theoretiker und Autor Michael Sorkin starb im März 2020 mit 71 Jahren in New York an Corona.

Der New Yorker Architekt, Stadtplaner, Theoretiker und Autor Michael Sorkin starb im März 2020 mit 71 Jahren in New York an Corona.

(Foto: Antje Kunstmann Verlag)

Der New Yorker Architekt Michael Sorkin hat zahlreiche Bücher publiziert. Er hat an einigen der renommiertesten Architekturfakultäten der Welt unterrichtet, darunter in New York, Harvard und Wien. Er hat als Architekturkritiker gearbeitet, für die US-Amerikanische Wochenzeitschrift The Nation und früher für das legendäre The Village Voice. Und natürlich hat Michael Sorkin auch Architektur entworfen, einige Gebäude, aber mehr noch ganze Stadtviertel, die sich besonders durch ihr vieles Grün auszeichneten, am Schluss meistens in Asien, besonders in China.

"Das Gefühl von kühlem Marmor unter nackten Füßen."

Vor allem aber hatte Sorkin die Gabe, andere in seiner Disziplin zu inspirieren. Wie sehr und wie viele das waren, hat die traurige Nachricht von seinem überraschenden Tod im März 2020 mit einer bedrückenden Endgültigkeit unterstrichen. Sorkin gehörte mit zu den ersten Corona-Opfern in New York. Weltweit betrauerte die Architektur-Gemeinde Sorkins Tod. Das schlanke graue Büchlein ist nichts weniger als sein Vermächtnis.

Michael Sorkin: 250 Dinge, die Architekt:innen wissen sollten: Wie man einen Ziegelstein mauert.

Wie man einen Ziegelstein mauert.

(Foto: Antje Kunstmann Verlag)

Wie es funktioniert? Michael Sorkin listet auf. Es ist eine Art Stakkato-Literatur, ein Gedicht in 250 Punkten, mit einer enormen Dichte, aber ohne zu erschlagen. Das hat viel mit Sorkins ganzheitlichem Anspruch an die Architektur zu tun. Das Erste, was Architekten seiner Meinung nach wissen sollten, ist zum Beispiel: "Das Gefühl von kühlem Marmor unter nackten Füßen." Gefolgt von: "Wie man mit fünf Fremden sechs Monate lang in einem kleinen Raum zusammenlebt." Und schließlich das Dritte: "Mit denselben Fremden eine Woche lang in einem Rettungsboot". Allein damit wird die Art von Sorkins Blick auf die Architektur klar. Die weltweite Flüchtlingskatastrophe taucht genauso auf wie die Frage nach dem nötigen Mindestmaß an privatem Rückzugsraum und Intimität, aber eben auch die Schönheit von kostbaren Materialien, die sich mit dem eigenen Fuß erspüren lässt.

Beim Lesen beginnt man fast automatisch im Kopf zu entwerfen und räumlich zu denken

Tatsächlich könnte man fast jeden einzelnen der 250 Punkte enorm vertiefen, allein der "Unterschied zwischen einem Ghetto und einem Kiez", den Architektinnen und Architekten wissen sollten, dürfte mehrere Regalmeter an Gentrifizierungsliteratur füllen. Aber eben auch die Fragen "Wo Materialien herkommen" und "Welches Steigungsverhältnis von Treppen für ein sechsjähriges Kind bequem ist" knüpfen an zentrale Diskussionen an, die nicht nur die Architekturwelt gerade führen muss. Denn wie kindergerecht, um nur einen Faden dieses dichten Gewebes aufzugreifen, ist die gebaute Welt wirklich? Vor nicht allzu langer Zeit filmte bei einem Spaziergang durch Wien eine Kamera auf der Höhe von einem Meter exakt das, was man aus dieser Perspektive sehen kann. Das Resultat war selbst für eine Schlagsahnen-Stadt wie Wien ernüchternd: Denn auch dort sehen Kinderaugen oft nur Kühlerhauben und Betonwände.

Michael Sorkin: 250 Dinge, die Architekt:innen wissen sollten: Die Dämmeigenschaften von Glas.

Die Dämmeigenschaften von Glas.

(Foto: Antje Kunstmann Verlag)

Es ist erstaunlich, wie schnell Michael Sorkin mit seiner Stakkato-Methode den Leser seines Büchleins zum Architekten macht - ganz egal, ob der wirklich einer ist oder nicht. Doch wenn da steht "Wie man um die Ecke biegt, eine Ecke gestaltet, in einer Ecke sitzt", dann beginnt man fast automatisch im Kopf zu entwerfen und räumlich zu denken. Wie war die Ecke gestaltet, wo man sich selbst heimelig gefühlt hat und sicher? Und wo wirkte es für einen stattdessen bedrängt und beengt?

Bei diesem Gedankenexperiment hilft auch Sorkins plastische Sprache - so treffend wie feinfühlig übersetzt von Michael Mundhenk -, seine Fähigkeit, in drei, vier Wörtern eine räumliche Situation so zu erschaffen, dass man sie sich leibhaft vorstellen kann. Gleichzeitig gelingt es ihm, Zwänge des eigenen Jobs zu skizzieren, ohne dass es in Larmoyanz abgleitet. So sollten Architektinnen und Architekten eben auch wissen, "was der Kunde (oder die Kundin) will, was der Kunde zu wollen glaubt, was der Kunde braucht, was der Kunde sich leisten kann." Wer einmal in einer Gemeinderatsitzung saß, wo es um ein öffentliches, gar nicht allzu komplexes Bauprojekt ging, sagen wir mal einen Kindergarten, weiß, wie viele gletschertiefe Wissensspalten dazwischen klaffen können.

Michael Sorkin: 250 Dinge, die Architekt:innen wissen sollten: Wie es sich anfühlt, die Ramblas entlangzugehen, die berühmteste Straße Barcelonas.

Wie es sich anfühlt, die Ramblas entlangzugehen, die berühmteste Straße Barcelonas.

(Foto: Antje Kunstmann Verlag)

Auffallend ist zudem, was Michael Sorkin alles auflistet, was man jedem ans Herz legen kann, ganz egal welcher Profession er oder sie nachgeht, weil man es - für's Leben - sowieso wissen sollte oder zumindest eine Ahnung davon haben. Wie man genau zuhört zum Beispiel, die Rate des Meeresspiegelanstiegs oder die Wohnungsfrage von Friedrich Engels. Gleichzeitig wird man im Büchlein keinen der vielen Fachbegriffen finden, die noch die spannendste Stadtplanungsdebatte narkotisieren. Statt etwa den Begriff der Dichte aufzugreifen und umständlich zu erklären, welche Qualitäten diese haben kann, schreibt Sorkin lieber, man solle wissen: "Wie es sich anfühlt, die Ramblas entlangzugehen", die berühmteste Straße Barcelonas.

Seine Begeisterung ist absolut ansteckend

Hinter den 250 Punkten lässt sich ein Denken erahnen, das von großer Neugierde getrieben war, und zwar sowohl für die Vergangenheit - "Wie Pyramiden gebaut wurden und weshalb" - als auch für die Orte der Gegenwart von Tianjin bis Medellín und die Frage, wie sich Gerechtigkeit für Mensch und Natur in Architektur ausdrücken kann. Sorkin empfiehlt "Jane Jacobs in- und auswendig", er will, dass Architekten wissen, "was der Planet sich leisten kann" und "wie viele Menschen in New York City Mietzuschüsse bekommen". Die soziale Frage ist ihm wichtig, die große gesellschaftliche und ökologische Verantwortung, die mit der Architektur einhergeht, ganz egal, ob der, der sie entwirft, das auch so sieht. Sorkin will aber auch, dass Architekten über ihren eigenen Schatten springen, wenn er ihnen rät "die Freuden von Vororten" zu kennen - und "die Schrecken".

Michael Sorkin: 250 Dinge, die Architekt:innen wissen sollten: Drei gute, fußläufig erreichbare Mittagslokale.

Drei gute, fußläufig erreichbare Mittagslokale.

(Foto: Antje Kunstmann Verlag)

Und vor allem wollte Michael Sorkin, dass am besten jeder seine Disziplin so liebt wie er, weil es eben auch um die Schönheit dieser Welt geht, um " die Blütezeit von Azaleen", "das Zugmuster von Singvögeln und das Wanderverhalten anderer Tiere". Seine Begeisterung für so vieles ist absolut ansteckend, sofort fängt man an zu googeln, was Vastu ist (die indische Architekturlehre über die richtige Platzierung von Grundstücken und Gebäuden sowie deren Gestaltung und Bauweise nach den Naturgesetzen der fünf Elemente), "was in Fatehpur Sikri schief lief" und was in der Pruitt-Igoe-Siedlung. Oder wer Rachel Carson und Michel de Klerk waren, Letzterer ein niederländischer Architekt, Erstere eine amerikanische Biologin und Umweltschützerin der ersten Stunde.

Michael Sorkin: 250 Dinge, die Architekt:innen wissen sollten: Michael Sorkin: Zweihundertfünfzig Dinge, die Architekt:innen wissen sollten. Übersetzt von Michael Mundhenk, Verlag Antje Kunstmann, München 2022, 176 Seiten, 20 Euro.

Michael Sorkin: Zweihundertfünfzig Dinge, die Architekt:innen wissen sollten. Übersetzt von Michael Mundhenk, Verlag Antje Kunstmann, München 2022, 176 Seiten, 20 Euro.

Michael Sorkins Anspruch an die Architektur war gewaltig. Was nicht bedeutet, dass seine Sicht darauf nicht auch von großem Humor geprägt war, der einem auch in dem schmalen Band immer wieder begegnet, genauso wie seine Freude am Genuss, an einem guten Bier etwa oder am "richtigen Mischverhältnis eines Gin Martini". Vor allem aber zeigt Michael Sorkin, welcher großartige Wahnsinn in der Architektur steckt: Sie will die Welt besser machen. Mit diesem Büchlein ist Michael Sorkin das zumindest schon mal gelungen.

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