Süddeutsche Zeitung

"Where to Invade Next" im Kino:Michael Moores Revolution aus dem Bonbonladen

Der US-Regisseur zieht in "Where to Invade Next" los, um seinen Landsleuten die paradiesischen Seiten Europas aufzuzeigen. Das wirkt gelegentlich naiv und regt doch zum Nachdenken an.

Filmkritik von Susan Vahabzadeh

Wenn die Menschheit getrieben wäre von Gier, Neid und Eifersucht, böte Michael Moores neuer Film Zündstoff für eine Revolution. "Where to Invade Next" ist wie ein Bonbonladen, zu dem immer nur die anderen Zutritt haben - alles, was man da sieht, will man auch sofort haben.

Staatsanwälte wie in Island, welche die Verursacher der Bankenkrise hinter Schloss und Riegel bringen. Gefängnisse, deren Insassen nur selten rückfällig werden. Glückliche Arbeiter in einer Textilfabrik, die mittags heimgehen und Pasta kochen.

Oder diese französischen Kinder, die in der Schulkantine Jakobsmuscheln serviert bekommen. Und dann der Koch, dem Michael Moore Bilder hinhält von amerikanischen Schul-Lunch-Fritten, und der entsetzt ruft: Mon dieu, die armen Kinder!

Moores schwarzer Humor im Mittelpunkt

"Where to Invade Next" hat Moore nach der ihm eigenen Methode gemacht, politische Dokumentation als Komödie. Im Mittelpunkt der Erzählung steht er selbst, und weil er sehr witzig ist, mit einem ganz eigenen Humor, der oft scheinbar naiv anfängt und dann rabenschwarz wird, wirken seine Geschichten beim Zuschauen komischer, als sie sind.

Diesmal ist der Ausgangspunkt eine fiktive Sitzung im Weißen Haus: Die Generäle schicken Moore los, damit er ihnen endlich mal wieder einen Krieg gewinnt. Krieg ist Eroberung, und Moore schippert los, um Gedanken in Übersee aufzusammeln.

Europäische Staaten, so hübsch, weil so sorgsam selektiv dargestellt

Er fängt in Italien an, wo die Menschen, sagt er, zufriedener aussehen als in Amerika. Er findet eine Unternehmerfamilie, die es ihren Angestellten bequem macht, weil sie dann besser arbeiten.

Und er lernt ein kleinbürgerliches Paar mit einem großbürgerlichen Horizont kennen. Die beiden haben die Welt bereist und sind auch sonst entspannt - was nur möglich ist, weil sie acht Wochen bezahlten Urlaub im Jahr genießen.

Zwar weiß auch Michael Moore, dass Italien nicht in jeder Hinsicht das gelobte Land ist; aber wenn Italien sich ein Verwaltungsmonster geschaffen hat und man sich dort über gleichgeschlechtliche Eheschließungen nicht einig wird, dann hat das herzlich wenig mit bezahltem Urlaub zu tun, die italienische Wirtschaft steht derzeit ganz gut da.

Und überhaupt, sagt Michael Moore achselzuckend in die Kamera: Ich bin gekommen, um Blumen zu pflücken, nicht zum Unkrautjäten.

Er findet allerlei Blüten: In Slowenien darf jeder umsonst studieren - weswegen sich an den dortigen Universitäten viele junge Amerikaner einfinden, die sich zu Hause kein Studium leisten könnten.

In Island findet er eine Bank, die von Frauen geleitet wird und an der die Bankenkrise spurlos vorüberging; außerdem den unbeirrbaren Staatsanwalt. Und in Portugal spricht er mit fröhlichen Polizisten, die die lasche portugiesische Gesetzgebung in Bezug auf weiche Drogen loben und die Todesstrafe für den Gipfel der Barbarei halten.

"Where to Invade Next" ist auch Wahlkampf

Moore war recht ruhig in den letzten Jahren, als hätte er das Gefühl gehabt, man habe ihn nicht so recht gebraucht in den zwei Amtsperioden von Barack Obama.

Er mag sich überflüssiger vorgekommen sein, als er es tatsächlich war, einstweilen ist das Gefangenenlager von Guantanamo immer noch nicht endgültig geschlossen.

Aber jetzt geht es ja wieder um etwas: "Where to Invade Next" ist auch Wahlkampf, und man kann davon ausgehen, dass Moores amerikanische Fans am ehesten im Lager von Bernie Sanders zu finden sind.

Moore hat es aber, verglichen mit seinem Film "Fahrenheit 9/11" über den Irakkrieg, diesmal klüger angestellt. Einen Mangel an Patriotismus können ihm seine Kritiker nicht im Ernst vorwerfen - er sichert sich zivilisatorische Errungenschaften zum Vorteil seiner Heimat wie andere Ölreserven.

Für ein europäisches Publikum ist das tatsächlich spannender, als es die Kritik an den bis an die Zähne bewaffneten Vorortbewohnern in "Bowling for Columbine" war oder an der Gesundheitsversorgung in "Sicko". Damit rannte er in Europa offene Türen ein.

Blumen statt Unkraut - man könnte bei "Where to Invade Next" erwarten, dass die rosarote Brille gewissermaßen an der Kamera festgeschraubt ist und der Film nur noch aneinanderreiht, was alles besser ist, wo wir gerade nicht sind.

Aber es gibt dann doch ein paar Momente im Film, die auch einen europäischen Durchschnittszuschauer schwer ins Grübeln bringen können. Die Deutschland-Episode etwa hat durchaus beklemmendes Potenzial. Sie wurde vor der Flüchtlingskrise gedreht; und es kommt einem so vor, als sei etwas von der Leichtigkeit dahin, die Moore da findet.

Andere Länder erzeugen andere Maßstäbe

Oder der norwegische Luxus-Strafvollzug, der wohl tatsächlich erstaunlich niedrige Rückfallquoten bei Strafgegangenen nach sich zieht, aber gefährlich gut geeignet ist, Sozialneid auszulösen: Strafvollzug ist Korrektur, nicht Rache, klar - trotzdem ist das norwegische Luxusgefängnis, das Moore besucht, auch für verwöhnte Augen ungewohnt. Es wirkt eher wie die Sorte Ferienhotel, die sich viele Leute nicht leisten können. Das wäre auch bei uns schwer vermittelbar.

Aber kommen hässliche, superstrenge Schmuddel-Gefängnisse, in denen aus Kleinkriminellen Schwerverbrecher werden, eine Gesellschaft tatsächlich billiger? Und dann spricht Moore mit dem Vater eines Jungen, den Anders Breivik bei seinem Massaker 2011 auf Utøya ermordete, und fragt ihn, ob er diese Art von Strafvollzug gut findet; und der Vater sagt ohne zu zögern: "Ja." So viel Haltung muss man erst mal haben.

Am Ende kommt er doch noch auf die Heimat zu sprechen

Moore geht dann, spät im Film, doch noch mit den USA ins Gericht. In Frankreich findet er Steuerbescheide, in denen aufgelistet ist, was genau mit den Abgaben finanziert wird - und suggeriert, dass die USA anders aussähen, würden die Steuerzahler jeden Monat ein Papier bekommen, auf dem steht, wie viel ihres Gehalts ins Militärbudget geflossen ist.

Und dann entwirft er eine schreckliche These, der zufolge parallel zur Bürgerrechtsbewegung und ihre Errungenschaften unterlaufend eine Art Sklaverei mit anderen Mitteln sich ausbreitet: durch Drogendelikte unter schwarzen jungen Männern, Wahlrechtsentzug und unbezahlte Arbeit im Gefängnis.

Michael Moores Utopie ist schon da - die Realität nicht wirklich

Nein, Moore erzählt in "Where to Invade Next" nicht nur von Dingen, die in Europa jedem klar sind; und er stellt Fragen, die auch bei uns keineswegs alle schon geklärt sind.

Vieles, was im Film über kostenlose Bildung und Arbeitsrecht gesagt wird, legt sogar die Frage nahe, ob wir nicht schon einmal weiter waren - die Amerikaner waren es jedenfalls. Manches, was Moore in der Welt findet, kann er letztlich zurückverfolgen nach Chicago und New York und Detroit. Vielleicht träumt er sich ein gerechteres Märchenreich zusammen in seinen Filmen - aber manchmal erscheint es ganz machbar und zum Greifen nah.

Where To Invade Next, USA 2015 - Regie und Buch: Michael Moore. Kamera: Rick Rowley, Jayme Roy. Falcom Media, 110 Minuten.

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Quelle:
SZ vom 24.02.2016/roho/pak/luc
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