Michael Lichtwarck-Aschoff "Robert Kochs Affe":Wenn der Seuchenarzt irrt

Lesezeit: 4 Min.

Michael Lichtwarck-Aschoffs Roman "Robert Kochs Affe" erzählt von der Kolonialvergangenheit und Hygieneforschung. Das ist gefährlich aktuell.

Von Jörg Häntzschel

Der Sommer 1881 war eine Schlüsselperiode für die deutsche Bakteriologie. Weniger weil Robert Koch damals nach Trier reiste, um eine Typhus-Epidemie zu bekämpfen. Sondern weil sich der Rest des erweiterten Koch'schen Haushalts dank der Abwesenheit des Professors endlich ungestört entfalten konnte. Sie leben in einer glamourösen Fin-de-Siècle-WG wie aus einem französischen Arthouse-Film. Schlendern barfuß von der Villa zum Gartenhaus und vorbei an den Beeten und tauschen vielsagende Blicke, wenn Kochs Frau ihren Mitbewohnern dessen Briefe vorliest: Da ist der junge Mediziner Walther Hesse und seine amerikanisch-javanesische Gemahlin Fanny, der Bakteriologe Paul Ehrlich und der geheimnisvolle Gärtner Witold. Folgt man dem Anästhesisten und Intensivmediziner Michael Lichtwarck-Aschoff, der seit seiner Pensionierung zu schreiben begonnen hat, leisten sie an diesen verträumten Sommertagen mehr für den Fortschritt der Medizin als Koch an der Seuchenfront.

Lichtwarck-Aschoff hat drei Episoden aus dem Leben Robert Kochs zu einem funkelnden Roman ausgemalt, der auf verblüffende Weise aktuell ist. Es geht um Viren und Bakterien, um Übertragungswege und ums Händewaschen. Um Krankheit als Metapher. Um Kolonialismus. Und über allem spukt - erst als eine Art Wissenschafts-Gespenst, dann in Person der berühmten "Typhoid Mary", der Frau, die 26 Jahre lang in Quarantäne verbrachte - die paradoxe Figur, die Koch entdeckt hat, und die uns heute bestens vertraut ist: der "gesunde Träger", der seine Mitmenschen ansteckt, ohne selbst Symptome zu zeigen.

Lichtwarck-Aschoffs Verfahren ist eine Art reverse engineering offizieller Geschichtsschreibung. Alles, was auf dem Weg zum offiziellen Lebenslauf und zum Wikipedia-Eintrag als minder wichtig oder problematisch abgeschliffen wurde, außerdem einiges, was nicht passiert ist, aber hätte passieren können, packt er als Fleisch wieder aufs Gerippe. Nicht in der didaktischen Manier von Doku-Fiction, sondern mit Lust an erhellender Spekulation. Der Titel, "Robert Kochs Affe", deutet an, was die Leser erwartet.

Hinter den Reden von "Hygiene" scheint eine autoritäre biopolitische Vision durch

Koch hielt sich tatsächlich einen Affen. Ob er nur Versuchstier war oder tatsächlich, wie hier, als weiser Narr in Ulanen-Uniform das Familienleben der Kochs aufmischte, wer weiß? Wer weiß auch, ob es diesen Sommer gab, oder die Nachtische, die Fanny Hesse allabendlich aus Beeren, Pfirsichen und Kirschen und den Farben komponierte, die Witold aus den Pflanzen im Garten gewann. Dass Witold mit seinen Farben Koch half, Bakterien unter dem Mikroskop sichtbar zu machen, ist aber ebenso historisch belegt wie die Tatsache, dass es Fanny Hesse war, die Koch auf die Idee brachte, Agar-Agar, das Mittel, mit dem sie ihre Grützen und Gelees andickte, als Nährboden für seine Bakterienkulturen zu verwenden.

Die ersten Risse in Kochs Autorität treten bei Lichtwarck-Aschoff schon auf den ersten Seiten auf. Der Professor mit dem Militärtick wirkt gestrig und autoritätsfixiert, und hinter seinen Reden von "Hygiene" scheint immer deutlicher eine autoritäre biopolitische Vision durch, die auf die Aussonderung der "Fremden" und Armen abzielt. Lichtwarck-Aschoff hat so viel zu erzählen aus dem Leben des schillernden Arztes, dass er es sich leisten kann, dessen bekanntesten Akt wissenschaftlicher Hybris nur en passant zu erwähnen: 1890 ließ sich Koch für das von ihm entwickelte Tuberkulin feiern, das vermeintliche Heilmittel gegen die Tuberkulose, das damals noch sehnlicher erwartet wurde als der Corona-Impfstoff. Doch das Medikament war wirkungslos, Tests hatte Koch nie durchgeführt, er selbst kannte die Zusammensetzung des Mittels nicht genau.

Nach dem Tuberkulin-Skandal suchte Koch Zuflucht und "wissenschaftliches Gold" an verschiedenen kolonialen Seuchenherden, darunter in Deutsch-Ostafrika, wo der zweite Teil des Buchs spielt. Was Koch elektrisierte, war nicht nur die dort grassierende Schlafkrankheit, sondern die Tatsache, dass die medizinische Ethik gemäß der kolonialen Logik nicht für die Behandlung von Afrikanern galt. Koch ließ die Erkrankten in "concentration camps" (O-Ton Koch) sperren, spritzte den schreienden Internierten die Arsenverbindung Atoxyl und beobachtete dann, was geschah. Viele erblindeten, manche starben, gegen die Krankheit selbst war das Gift weitgehend unwirksam.

Kochs Helfern dämmert, dass sie an verbrecherischen Menschenexperimenten mitwirken

Lichtwarck-Aschoff hat einen raffinierten Trick erfunden, um diese erschütternden, zu wenig bekannten Vorkommnisse in maximaler Rohheit darzustellen. Er legt sie einem traumatisierten und jahrelang ins Irrenhaus gesperrten Soldaten in den Mund, der sie sich Jahre später gegenüber einem Betreuer von der Seele redet. Erst stockend, dann immer dringlicher erzählt er, wie die letzten Illusionen der Deutschen in der Hitze verdampfen und wie Kochs Helfern allmählich dämmert, dass sie hier an verbrecherischen Menschenexperimenten mitwirken. Seine Entdeckung des "gesunden Trägers" missbraucht Koch, um seine Fantasien von Unterdrückung und Ausrottung zu legitimieren. "Die Seuche war schwarz, und die schwarze Horde war die Seuche." Mit jedem gestorbenen Afrikaner, so die Logik, wird der Kontinent gesünder.

Michael Lichtwarck-Aschoff: Robert Kochs Affe. Der grandiose Irrtum des berühmten Seuchenarztes. S. Hirzel Verlag, Stuttgart 2021. 240 Seiten, 24 Euro. (Foto: N/A)

Im dritten Teil reist Koch nach New York, um die berühmteste gesunde Infizierte oder "Dauerausscheiderin" der Welt zu untersuchen: Mary Mallon, eine aus Irland stammende Köchin, die Dutzende mit Typhus ansteckte. Wohl auch, weil die rebellische "Typhoid Mary" von der Presse zur Schauerfigur verzeichnet wurde, wurde sie von 1907 bis 1910 und erneut von 1915 bis zu ihrem Tod 1938 in Quarantäne gesperrt.

Der Besuch war als späte Ehrenrunde für Koch geplant, doch es kommt anders. In New York weiß man von seinen Fehlschlüssen und Vergehen. Als dann auch noch seine Gesundheit versagt, muss er erfahren, "was es bedeutet, krank zu sein und auf ein Objekt für Herzkurven und Darmreinigungen reduziert zu werden".

Man begegnet historischen Vorläufern der Themen, die in letzter Zeit diskutiert wurden

Ob Lichtwarck-Aschoffs raffiniert, wenn auch manchmal zu dekorativ erzähltes Buch hier auch besprochen worden wäre, wäre es vor zwei Jahren erschienen? Fraglich. Heute verschlingt man "Robert Kochs Affe" schon deshalb, weil man darin den historischen Vorläufern so vieler Themen begegnet, die in den letzten eineinhalb Jahren diskutiert wurden: die Widersprüchlichkeit von Hygieneregeln; die Gerüchte und Verschwörungstheorien; die Krankheit als Klassenphänomen. Übrigens beteuert Lichtwarck-Aschoff glaubhaft, das Buch sei bereits fertig gewesen, als Covid über die Welt kam.

Doch die jähe Aktualität des Romans lässt ihn gegen Ende hin teils naiv erscheinen. Ja, der Mensch ist kein "Gefäß, das möglichst sauber gehalten werden muss, nichts Fremdes darf sich darin aufhalten, das Fremde ist schon die Krankheit". Darauf können sich wohl alle einigen. Doch die These, dass der am gesündesten ist, der "möglichst vielen, möglichst unterschiedlichen Bazillen als Nährboden" dient, ähnelt unbeabsichtigt dem Geschwurbel, das man auf Telegram lesen kann. Lichtwarck-Aschoff, der 40 Jahre auf der Intensivstation gearbeitet hat, will seinen Roman keineswegs als Kritik an den Corona-Maßnahmen verstanden wissen. Hoffentlich wissen das auch die Querdenker.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Katharina Döbler: "Dein ist das Reich"
:Familienalbum mit Kolonialisten

Was wollten die Großeltern als Missionare in Papua-Neuguinea? Mit ihrem Roman "Dein ist das Reich" versucht Katharina Döbler auch ein Stück Kolonialgeschichte zu verstehen, ohne zu schnell zu urteilen.

Von Jörg Häntzschel

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: