Michael Köhlmeier: "Matou":Endloses Schnurren

Michael Köhlmeier: "Matou": Kater Matous erstes Leben endet unter der Guillotine. Nicht so schlimm, es kommen ja noch sechs weitere.

Kater Matous erstes Leben endet unter der Guillotine. Nicht so schlimm, es kommen ja noch sechs weitere.

(Foto: Catherina Hess)

In "Matou" erzählt ein Kater seine sieben Leben. Michael Köhlmeier packt enorm viel Material in diesen Roman. Dann vergreift er sich.

Von Burkhard Müller

Katzen haben es gut. Sie stehen nicht in komplexer Verantwortung wie die Menschen, sie sind nicht zu einer kriecherisch abhängigen Existenz verdammt wie der Hund, sie müssen nicht jeden Tag um ihr Leben kämpfen wie ein wildes Tier, genießen aber, wenn sie sich nachts herumtreiben, alle Freiheiten eines solchen. Sie werden gefüttert und erlegen Mäuse nur zum Spaß, lassen sich streicheln, wenn ihnen danach ist, und ansonsten tun sie, was sie wollen. Und sie verfügen noch über ein weiteres Privileg: Während die anderen Kreaturen, die Menschen eingeschlossen, einfach tot sind, wenn sie sterben, haben Katzen sieben Leben.

Michael Köhlmeier macht in seinem Roman "Matou", der nach seinem schnurrhaarigen Ich-Erzähler heißt, mit diesen sieben Leben ernst. Die nahezu tausend Seiten des Buchs umfassen 230 Jahre von der Französischen Revolution bis in die Gegenwart, kurz: die ganze neuere Geschichte. In seinem ersten Leben ist Matou das Schoßtier des revolutionären Rhetors Camille Desmoulins, der auf dem Höhepunkt des Terreurs plötzlich Barmherzigkeit predigt und dafür unter der Guillotine landet; auch Matou selbst hat das Pech, guillotiniert zu werden, weil man die neu geschärfte Klinge ausprobieren will. Nicht so schlimm, denn schon wartet Leben Nummer zwei. Matou darf es sich, wie alle Katzen, selbst aussuchen. Ort dafür ist das "Weggemachte", eine Art Wartesaal, wo die Wiedergeburtskandidaten auf einem riesigen Tablet die Angebote studieren.

Matou optiert für das Berlin des frühen 19. Jahrhunderts und den Haushalt von E.T.A. Hoffmann, wo er, wenig überraschend, zur Inspirationsquelle für die "Lebensansichten des Katers Murr" wird. (Überflüssig zu sagen, dass dieser nur zu einem schwachen Abklatsch seines Vorbilds gerät.) Im dritten Durchgang errichtet er ein Schreckensregiment unter seinesgleichen auf der Katzeninsel Hydra, beim vierten verwandelt er sich, dank einer großzügigen Interpretation des Begriffs "Katze", in einen Leoparden zur Zeit der belgischen Kongo-Gräuel. Das fünfte Leben führt ihn in eine großbürgerliche Familie zu Prag kurz vor und während des Ersten Weltkriegs, das sechste ins New York Andy Warhols. Das siebte Leben, welches er als Haustier der Dame Ingeborg und ihres antriebsschwachen Neffen Daniel zumeist in Wien verbringt, liefert den erzählerischen Rahmen, indem Matou, kurz bevor er endgültig abtreten muss, die Kralle in Tinte taucht und seine siebenfachen Memoiren schreibt.

Der Kater hat nicht nur menschliche, sondern geradezu übermenschliche Fähigkeiten

Bei dieser stofflichen Fülle stellen sich zwei Fragen, an denen sich das Schicksal des Buchs entscheidet. Erstens: Gelingt es, für diesen Helden an der Schnittstelle des animalischen und des humanen Reichs eine überzeugende Erzählsprache zu finden? Und zweitens: Wie bewahrt man das Interesse des Lesers und der Leserin, wenn Personal und Handlungsstränge fortwährend wechseln und es aufs je Letztvergangene so offenkundig überhaupt nicht ankommt?

Da Köhlmeier auf beide Fragen keine wirkliche Antwort weiß, wird sein Buch, je länger, desto mehr, zur Strapaze. Matou hat nicht nur menschliche, sondern geradezu übermenschliche Fähigkeiten. Zwanzig Minuten braucht er, um die "Anna Karenina" zu lesen, und weiß sie danach auswendig - eine grobe und unsinnige Prahlerei nicht des Erzählers, sondern seines Autors. Nur hin und wieder blitzt so etwas wie die elegante Bestialität eines kleinen Raubtiers auf, etwa bei den Schilderungen einer fidelen Katzen-Erotik, die unbelastet von menschlicher Scham und Tragik bleibt.

Eine befreundete Katze, die sich viel auf ihre theologische Bildung zugutehält, darf ihr Verhältnis zur Metaphysik einmal so ausdrücken: "(...) dass sie sich aufs Himmelreich mindestens genauso freue wie auf eine pfundige Rammelei oder gehackte Hühnerleber". Was für eine herrlich subtile Heuchelei steckt in dem Wörtlein "mindestens"! Aber diese paar schönen Stellen retten das dicke Buch nicht. Es schenkt uns stattdessen Sätze solcher Art: "Wenn ihr [Menschen] wacht, habt ihr eine gemeinschaftliche Welt, wenn ihr schlaft, hat jeder seine eigene; wir Katzen haben immer nur unsere eigene, und zwischen Wachen und Schlafen ist in unserer Welt kein großer Unterschied." Das ist eine treffende Erkenntnis und sogar eine tiefe. Aber nicht Matou dürfte sie haben, wenn er glaubhaft ein Kater bleiben soll.

Generell gewinnt man den Eindruck, dass Köhlmeier sein Buch als eine Art große Umzugskiste benutzt, in der er alles Mögliche verstaut, was er schon lang mal machen wollte. Das betrifft Reflexionen wie die oben zitierte, anekdotische oder novellistische Einsprengsel, vor allem aber Gedichteinlagen. Verteilt aufs Buch ergeben sie einen ganzen, vorwiegend balladesken Zyklus. Dabei setzt Köhlmeier auf Kontinuität zur Tradition. Er verwischt mit Bedacht die Grenzen, wo Eichendorff und Schiller, die er gern zitiert, enden und seine eigene Produktion beginnt: So will er ein Gesamtwerk wölben, dessen Schlussstein er selbst wäre - ein zunächst nicht unsympathisches Projekt.

Am Ende verdrießt das Mittelmaß, das einfach nicht aufhört

Manche von diesen oft liedhaften Gebilden sind auf ihre Weise gar nicht schlecht, haben aber die Tendenz, dem Mitgeteilten den Ton des Bänkelsangs zu verleihen. Besonders störend wirkt dies im vierten Leben, wo die zehn Millionen Toten im Kongo-Freistaat des belgischen Königs Leopold zur Balladenfolge vom Leoparden und dem Mädchen gerinnen, dem die europäischen Gummisammler die Augen ausgerissen und die Füße abgehackt haben, sodass sie nun mit ihrem mächtigen Beschützer in einer Art selbstgebasteltem Rollstuhl unterwegs ist. Es klingt so: "Und siehe, da lebt so ein böser Mann / in Belgiens Königspalästen, / der lügt, er sei von den Besten / der Beste, dem keiner je gleichen kann. / Er eignet sich Tiere und Menschen an, / den Leopard und das Mädchen / auf seinem hölzernen Rädchen." So geht das nicht.

Michael Köhlmeier: "Matou": Michael Köhlmeier: Matou. Roman. Hanser, München 2021. 960 Seiten, 23 Euro.

Michael Köhlmeier: Matou. Roman. Hanser, München 2021. 960 Seiten, 23 Euro.

Köhlmeier nimmt wie selbstverständlich alles an Literatur mit, worauf sein Matou unterwegs trifft, von Hoffmanns Serapionsbrüdern bis zu Susan Sontag. Dabei greift er unbekümmert auch zu dem, was ihm nicht bekommt: Kafka. Keine Scham und kein Instinkt des Selbstschutzes hat ihn daran gehindert, sich den "Bericht an eine Akademie" einzuverleiben, den sprechenden Schimpansen Rotpeter umstandslos zum Kumpel von Matou zu machen und Kafkas Text - einen ausdrücklich schriftlichen Bericht - in eine frei gehaltene Rede vor Zirkuspublikum zu verwandeln, launig unterbrochen von Rückfällen ins grunzend und kreischend Tierhafte: "Ihr Affentum, meine Herren, sofern Sie etwas Derartiges hinter sich haben, kann Ihnen nicht ferner sein als mir das meine. Harach, harch! An der Ferse kitzelt es jeden, der hier auf Erden geht, den kleinen Schimpansen wie den großen Achilles. Harach harch, hu-hu-hu ..." Köhlmeier hat kein Gefühl dafür, dass er, indem er den weit Größeren aufruft und neckisch deformiert, sich die Nemesis des tödlichen Kontrasts auflädt.

Wenn man diese peinigenden Passagen hinter sich hat, dann neigt man, so unentschieden die Lektüre bisher gewesen sein mag, nicht mehr zur relativierenden Nachsicht. Dann verdrießt ein schmunzelndes Mittelmaß, das den Vorsatz gefasst hat, sich zum großen Fabulieren aufzuschwingen, indem es einfach nicht aufhört. Dann merkt man plötzlich scharf, welch undisziplinierten Auswalzungen das Buch seine lästige Länge verdankt. Dann empfindet man die Öde der langen nominalen Reihen, die barocke Vielfalt inszenieren wollen, wenn sie etwas "aufgeblasen, eitel, hochmütig, hinterhältig, bösartig, böswillig, hämisch, schmählich, infam, selbstherrlich, anmaßend, dünkelhaft, präpotent, gespreizt, geziert, pomadig geradezu, pampig, insolent, blasiert (...)" nennen. Was? Das ist schon egal. Dann glaubt man diesem Kater, der siebenmal und doch eigentlich niemals gelebt hat, nicht einmal mehr seinen letzten, finalen Tod, welcher sich aus 99 Synonymen von "den Löffel abgeben" bis "sich endgültig vertschüssen" zusammensetzt. Dann erkennt man, dass hier ein Buch mit Pauken und Trompeten ins Nichts marschiert.

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