Regisseur Michael Haneke wird 80:Zuchtmeister des Blicks

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Isabelle Huppert und Michael Haneke 2017 in Cannes: Beide verbindet eine lange und erfolgreiche Geschichte. In Hanekes unvergesslichem Film "Die Klavierspielerin" von 2001 spielt Huppert die Hauptrolle. (Foto: Andreas Rentz)

Er zwingt uns hinzuschauen und entlarvt uns dabei als ohnmächtige Zeugen und begierige Voyeure: Der österreichische Kinogroßmeister Michael Haneke wird achtzig.

Von Philipp Stadelmaier

Michael Hanekes erster Kinofilm von 1989, "Der siebente Kontinent", beginnt in einer Autowaschanlage, sein bisher letzter, "Happy End", 2017, endet am Meer. Zwischen beiden erstreckt sich das viel prämierte Werk eines Kinogroßmeisters mit buschigen Augenbrauen und weißem Bart, der nie aufgehört hat, seinem Publikum die Schaulust aus den Augen zu waschen. Mit unerbittlicher Strenge und ätzender Ironie zwingt er uns, in guter österreichischer Tradition, dort hinzuschauen, wo es richtig, richtig wehtut.

Der 1942 in München geborene Sohn zweier Schauspieler wollte zuerst ebenfalls Schauspieler werden, wurde aber vom Wiener Max-Reinhardt-Seminar abgelehnt. Aus einer Karriere als Konzertpianist wurde ebenfalls nichts, auch wenn klassische Musik immer wieder in seinem Werk auftaucht und dessen Grausamkeit einen bildungsbürgerlichen Schliff verleiht. Vor allem in der "Klavierspielerin", Hanekes unvergesslicher Verfilmung des Romans von Elfriede Jelinek aus dem Jahr 2001. Hier wird viel Schubert gespielt, aber auch eine inzestuöse Mutter-Tochter-Beziehung verhandelt und die von Isabelle Huppert genial gespielte Klavierspielerin von ihrem Schüler vergewaltigt.

Nach einem abgebrochenen Studium der Philosophie, Psychologie und Theaterwissenschaft bekommt Haneke Ende der Sechzigerjahre beim Südwestfunk in Baden-Baden eine Anstellung als Fernsehdramaturg. Seine Ausbildung zum Filmemacher beginnt mit dem Studium von Drehbüchern, die auf seinem Schreibtisch landen. Er lernt vor allem von den schlechten und beginnt bald, selbst welche zu schreiben. Einige davon verfilmt er, wobei es sich bei den Fernsehproduktionen um den bis heute unsichtbaren Teil seines Werkes handelt. Die entsprechenden Skripte fehlen auch in Hanekes "Drehbüchern", die 2019 gesammelt in Buchform erschienen - eine über tausend Seiten dicke "Summa" Hanekeschen Schaffens.

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Nach Arbeiten fürs Fernsehen und die Bühne beginnt sein Kino-Werk dann mit dem "Siebenten Kontinent", gedreht nach einer Meldung aus dem Stern. Eine Familie sperrt sich in ihrer Wohnung ein, zerstört ihre gesamten Besitztümer und begeht Selbstmord. Die Hauptfiguren heißen Georg und Anne, wie fast alle Paare bei Haneke. Wie in seinen späteren Filmen psychologisiert Haneke nichts, stattdessen protokolliert er die Vorgänge einfach in ihrer nackten, unerklärlichen Dimension. Damit beginnt seine "Trilogie der emotionalen Vergletscherung" , gefolgt von "Bennys Video" (1992) und den "71 Fragmenten einer Chronologie des Zufalls" (1994). Die allgegenwärtige Gewalt - in der Familie, in den Medien, im Umgang mit Tieren - führt zu Abstumpfung, Empathielosigkeit und einer Reproduktion der Grausamkeiten: Benny tötet seine Freundin mit einem Bolzenschussgerät, in den "Fragmenten" läuft ein Student Amok.

Aus den Fragmenten in Hanekes Filmen lässt sich kein Ganzes zusammensetzen

Gerade in seinen frühen Arbeiten steht Haneke in der Tradition Robert Bressons und anderer moderner Filmemacher, für die die Reflexion des Mediums essentieller Teil des Kunstwerks ist. Die Wirklichkeit zerlegt er in Fragmente, aus denen sich kein Ganzes mehr zusammensetzen lässt, und wenn im Zentrum seiner Filme die Gewalt steht, so geht es doch eher um deren Vermittlung und die Rolle des Betrachters. Benny wird, wie der Titel sagt, seine Taten auf Video aufnehmen, als sei die Grausamkeit nicht vollständig, solange er sie nicht mit einer Kamera festhält.

In "Funny Games" (1997), den Haneke zehn Jahre später mit amerikanischen Schauspielern noch einmal dreht ("Funny Games U.S."), werden Gewalt und Zuschauen endgültig eins. Die Videotechnik verwandelt sich in ein sadistisches Kontrolldispositiv. Die zwei Widerlinge, die eine bürgerliche Familie ohne jeden Grund einfach "zum Spaß" beim Wochenendausflug überfallen und abschlachten, lassen den Film teilweise wie ein Videoband vor- und zurücklaufen, wenn sie mit ihren Brutalitäten noch nicht ganz zufrieden sind, denn: "Wir wollen doch dem Publikum etwas bieten..." Die mediale Selbstreflexion schafft bei Haneke keinerlei Distanz, im Gegenteil, sie macht alles nur noch schlimmer.

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So entlarvt Haneke den Zuschauer als ohnmächtigen Zeugen und begierigen Voyeur der ihm vorgesetzten Gewalt. Aber der eiskalte Analytiker des Mediums ist auch ein zorniger Ethiker. Ebenso wie vor ihm Roberto Rossellini, François Truffaut und Abbas Kiarostami ist Haneke stets solidarisch mit Kindern, erschüttert ihn nichts so sehr wie Gewalt gegen sie. "Das weiße Band", für den er 2009 in Cannes die Goldene Palme erhielt, spielt Anfang des 20. Jahrhunderts in einem norddeutschen Dorf und zeichnet nach, wie die Grausamkeiten der Welt im grausamen Umgang mit Kindern wurzeln. Auch mit Bezug auf afrikanische Immigranten in Frankreich hat Haneke immer wieder den Finger in historische Wunden gelegt.

Blickt man heute auf seine Karriere zurück, muss man verwundert anerkennen, dass dem Mann fast alles gelungen ist. "Liebe" (2012), der zwei Stunden lang Siechtum und Sterben eines achtzigjährigen Musikprofessoren-Paares beobachtet, ohne je ihre Wohnung zu verlassen, ist vielleicht die Apotheose seines Schaffens. Ein perfekter Film, ausgezeichnet mit einer weiteren Goldenen Palme und dem Oscar - und ein großer kommerzieller Erfolg. In seinem bislang letzten Film, "Happy End", schaut er einer weißen französischen Großbürgerfamilie beim Zerfall zu, während er sein Werk noch einmal Revue passieren lässt. Besonders fröhlich endet auch dieser Film nicht. Vom Ende seines Filmschaffens ist Michael Haneke, der heute seinen 80. Geburtstag feiert, hoffentlich noch weit entfernt.

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